Wiener Familienhäuser. — Die Gestaltung und Konstruktion der Fenster. — Das Unfall versicherungsgesetz vom 6. Juli 1884 630
Wiener Familienhäuser.
(Hierzu 8 Fig.)
In Wien ist und war es dem Muittelstand größtentheils
nicht vergönnt, an der großen Bauthätigkeit theilzunehmen. Dort
bemächtigte sich nahezu ausschließlich die Spekulation des Bau—
bedürfnisses und es wird den Spekulanten kaum beifallen, kleine
Häuser zu bauen; sie bauen lieber große, bei denen größerer Ge—
winn zu erzielen ist. Der Lanf der Zeiten, die übergroͤße Centrali—
sation der Hauptftädte bringt es zum großen Theil so mit sich
und so entsteht der Zinspalast, die Zinskaserne.
Nur in den Ausläufen der Vorstädte haben sich hier und da
zumeist wohlhabendere Geschäftsleute und Handwerker, die den
Besitz eines eigenen Hauses in seiner Bedeutuüng für naturgemäße
Entwickelnng und Ausbreitung der Familie zu schätzen wußten,
ein Wohnhaus nur für die eigene Familie erbaut.
Wir bringen in beistehenden Figuren ein solches Haus
welches wohl als Type für alle diese Bauten in Wien gelten kann.
Das Charakteristikum des Wiener Grundrisses, das Vorzimmer,
von denm aus alle Räume, auch der Abort, zugänglich find, isi
auch hier in beiden Stockwerken vorhanden.“ Bei der hier fast
ausnahmslosen Anwendung englischer Aborte dürfte auch gegen
den Einbau derselben in's Vörzimmer nichts einzuwenden 'sein.
Die ausreichenden Wirthschaftsräume sind im Souterrain, die
Hauptwohnränme, im Parterre untergebracht, was auch in der
Façade zum Ausdruck gelangt.
Die Kosten eines solchen Hauses belaufen sich bei der durch
die Baugesetze vorgeschriebenen, äußerst soliden Ausführung tei⸗
nerne Treppe, feuersicherer Abschluß des Dachbodens ꝛc.) auf rot
10000 Gulden exkl. Baugrund, d. i. ca. 90 Gulden per qm.
Fig. 7 und 8 kolgen in der nächsten Nummer.
P —
Die Gestaltung und Konstruktion der Fenster.
Hierzu 7 Fig.)
(Schluß.)
Wenn nun dieser Umstand allein auch für das Fenster nicht
immer maaßgebend sein kaun, so würde er doch den Ausschlag
geben, sobald die Konstruktion auch den übrigen Auforderungen zu
eutsprechen vermöchte. Wie weit dies möaglich, sei hier naller
Kürze nachgewiesen.
ad J. Die Zuführung genügender Lichtmenge wird durch
die vorgeschlagene Theilung nicht beeinträchtigt, besonders in An—
betracht des Umstandes, daß die Holztheile von den Vorhängen
verdeckt werden, während bei den Fenstern mit Mittelpfosten
gerade die freien Fensterflächen verdeckt sind und die Holztheile
sichtbar bleiben.
ad 2. Die Möglichkeit der Luftzuführung in weitgehendstem
Maaße gewährt dieses Fenster schon, wenn nur die breiten Mittel—
flügel geöffnet werden, da, wie oben erläutert, hauptsächlich die
Höhe der Oeffnung, weit weniger aber deren Breite bei der
Lüftung in Frage kommt und außerdem wegen der die Fenster—
öffnung verdeckenden Vorhänge immer nur der mittlere Theil der
Oeffnung für die Lüftung wirklich nutzbar wird, zumal in den
meisten Fällen die seitlichen Flügel der Fenster, wenn geöffuet,
doch nur bis zu einem gewissen Winkel aufstehen, also auch nur
dine verhältnißmäßig schmale Nutzungsöffnung ergeben.
ad 3. Für den Schutz, welchen das Fenster gegen Witte—
rungseinflüsse, insbesondere gegen Regen, Schnee und Stanb ge—
währen soll, wurde weiter oben die möglichste Beschränkung der
Fugen resp. der aufgehenden Theile des Fensters als haupfsächlich
manßgebend erkannt. Dieser Forderung wird hier leicht dadurch
genügt, daß nur der mittlere breite Fenstertheil beweglich, die
Seitentheile fest konstruirt werden.
Dieselbe Konstruktion entspricht der Forderung ad 4; denn
wir haben oben gesehen, daß derselben zu genügen ein fester
Pfosten da sein muß, welcher allein die Anbringung einfacher und
sicher schließender Beschläge gestattet.
Dieser Pfosten ist hier aber, wenn nur der Mitteltheil zum
Oeffnen eingerichtet ist, in dem Rahmenholz der Seitentheile
gegeben.
Auch die Erfüllung der Forderung ad 5 hängt, wie nach—
gewiesen, lediglich von der Beschränkung der beweglichen Fenster—
theile ab. Sonach würde auch hier die Konstruktion zweck—
mäßig sein.
Der Forderung ad 6: die Fensterflügel öffnen zu können,
ohne die Vorhänge zu schädigen, wird durch die Dreitheilung des
Fensters mit allein anfgehendem Mittelflügel ebenfalls mehr ent—
sprochen, wie durch die Zweitheilung, weil der zu öffnende Fenster—
flügel nicht mehr seitlich am Fenstergewände, sondern da seine
Drehaxe hat, wo die Vorhänge das Fensterlicht freilassen, so daß
nur ein ganz geringes Zurückschieben der Vorhänge bei Oeffnung
des Fenste s nöthig wird.
Daß das dreitheilige Fenster der Forderung ad 7: ein be—
quemes Hinausschanen zu ermöglichen, besser genügt als die ander—
Fensterarten, lehrt ein Blick auf die Figuren in voriger Nummer.
Zugleich aber ist durch die feststehenden Seitentheile die bei in
zauzer Breite aufgehenden Feustern häufig sehr unangenehme
Schädigung der Vorhänge beschränkt.
Daß auch bei ad 8eine bequeme Reinigung möglich, hängt
nur von der Breite der feststehenden Seitentheile ab. und diese
dürfte bei den in Wohngebäuden üblichen Feusterweiten 25 bis
30 em selten genng übersteigen. Das ist äber ein Maaß, bei
velchem eine bequeme Reinigung der Seitentheile durch Heraus—
trecken eines Armes von Innen noch leicht erfolgen kann.
Da, wie wir weiter oben gesehen, auch dem Schönheitsgefühl
durch die vorgeschlagene Dreitheilung am besten entsprochen wird,
dürfte der Anspruch gerechtfertigt erscheinen, in dem nach der
Breite ungleich getheilten Fenster mit aufgehendem Mittelflügel
und feststehenden Seitentheilen diejenige Form zu haben, welche
allen an ein Fenster zu stelleuden Forderungen in weitestem Maaße
zenügt. Berücksichtigt man außerdem die damit ermöglichte außer—
ordentliche Einfachheit der ganzen Konstruktion und demzufolge
auch deren größere Billigkeit und Solidität, so wird man zugeben
müssen, daß dieses Fenster die vollste Aufmerksamkeit und größte
Verbreitung vor Allem bei Wohnhausbauten verdient.
Mühlhausen i. Thür. Septbr. 1885.
Ad. Kelm.
Das Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli
—1884.
welches am 1. Oktober 1885 ganz in Kraft getreten ist, schneidet
so tief in unsere industriellen Verhältnisse ein, daß nicht oft genug
darauf hingewiesen werden kann, wie nothwendig es für die weite?
sten Kreise ist, sich mit den Bestimmungen desselben vertraut zu
machen Hierzu auch seinerseits bei jedem Aulaß beizutragen, hält
unser Blatt für seine Pflicht. Wir werden daher in Nachstehendem
die, wichtigsten Grundzüge des Gesetzes nach dem „Bewerbeblaätt für
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der Leser damit wenig Neues zu bieten.
Wenn schon die erste hiebei zu beantwortende Frage: wer
durch das Gesetz versichert ist? beinahe zum Ueberdruß oft 'erörtert
worden ist, so scheinen sich doch Viele darüber noch kein klares
Urtheil gebildet zu haben, und man hört vielfach äußern, daß
manche Unternehmer versicherungspflichtiger Betriebe mit einer An—
meldung desselben noch bis heute im Verzug seien.
Wir heben zunächst dassenige hervor, was 8 1 des Unfall—
bersicherungsgesetzes darüber bestimmt. Hiernach werden versichert:
aille in Bergwerken, Salinen, Aufbereitungsanstalten, Steinbrüchen,
Bräbereien (Gruben), auf Werften und Bauhöfen, sowie in Fa—
)riken und Hüttenwerken beschäftigten Arbeiter und Betriecbs-—
Fcamten, letztere bis zu einem Jahresgehalte von 20)00 Mek., ferner
die Arbeiter zc. im Manrer-, Zimmer-, Dachdecker-, Steinhauers,
Brunnenmachergewerbe, die Arbeiter im Schornsteinfegergewerbe
ind die Arbeiter in solchen Betrieben, in welchen Damufkessel oder
durch elementare Kraft (Wind, Wasser, Dampf, Gas, heiße Luft ꝛc.)
»ewegte Triebwerke zur Verwendung kommen. Im übrigen gelten
als Fabriken im Sinne des Gesetzes insbesondere diejenigen Be—
triebe, in welchen die Bearbeitung oder Verarbeitung von Gegen—
täuden gewerbsmäßig ausgeführt wird, und in welchen zu diesem
Zweck mindestens 10 Arbeiter regelmäßig beschäftigt werden, sowie
Betriebe, in welchen Explosivstoffe oder explodirende Gegenstände
Jewerbsmäßig erzeugt werden.
Außerdem sind auf Grund des 8 1 Abs. 8 des Unfall—
ersicherungsgesetzes durch Beschluß des Bundesraihs vom 22. Jauuar
1885 noch weiter für versicherungspflichtig erklärt worden: Arbeiter
ind Betriebsbeamte, welche von einem Gewerbetreibenden, dessen
Bewerbebetrieb sich auf die Ausflihrung von Tüucher-, Verputzer-,
Gipser-, Stukkateur-, Maler- (Anstreicher-), Glaser-, Klempuer—
und Lackirarbeiten bei Bauten, sowie auf die Aubringung, Ab—
nahme, Verlegung und Reparatur von Blitzableitern erstreckt, in
diesem Betriebe beschäftigt werden. —
Endlich sind durch Gesetz vom 28. Mai 1885 in die Unfall—⸗
versicherungspflicht nachträglich einbezogen worden: der gesammte
Betrieb der Post- Telegraphen- und Eisenbahnverwaltungen, sämmt—
liche Betriebe der Marine- und Heeresverwaltungen, der Baggereis,
der gewerbsmäßige Fuhrwerks-, Binnenschifffahrts-, Flößerei-,
Prahm- und Fähcbetrieb, der Gewerbebetrieb des Schiffziehens