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Das Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 18864. — Mittheilungen aus der Praxis.
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der gewerbsmäßige Speditions-, Speicher- und Kellereibetrieb, der
Gewerbebetrieb der Güter-Packer-, -Lader, Schaffer, Bracker,
Wäger, Messer, Schauer und Stauer.
Vorerst von der Versicherung noch ausgeschlossen sind ins—
besondere alle land- und forstwirthschaftlichen Arbeiter, sowie ein
bedeutender Bruchtheil der Handwerksgehilfen.
Bekanntlich hat jeder Unternehmer eines versicherungspflichtigen
Betriebes denselben bei der unteren Verwaltungsbehörde (d. h. dem
K. Oberamt) anzumelden. Man hört aber, wie schon bemerkt,
häufig die Wahrnehmung äußern, daß manche Betriebsunternehmer,
deren Betriebe ganz unzweifelhaft versicherungspflichtig sind, mit
ihrer Anmeldung heute noch im Rückstand sich befinden und mit
einer unbegreiflichen Sorglosigkeit bis jetzt einfach alles auf die
Unfallversicherung Bezügliche ignorirt, sich von aller Betheiligung
ferngehalten und alle Zuschriften in den Papierkorb gewoͤrfen
haben. Diese Stellungnahme gegenüber einer gesetzlichen Pflicht,
deren sich schlechterdings Niemand, den sie angeht, entziehen kann,
wird gar nichts helfen. Jeder an sich versicherungspflichtige
Unternehmer wird kraft des Gesetzes Mitglied derjenigen Berufs—
genossenschaft, zu welcher er nach Maßgabe der Abgrenzung der
— —
zweigs gehört. Die Versicherungspflicht besteht auch, wenn sich
der Pflichtige seither in der Verborgenheit gehalten hat und in
Folge davon sein Betrieb nicht in das Genossenschaftskataster auf—
genommen worden ist, sobald nur die objektiven, von dem Gesetz
gestellten Voraussetzungen vorliegen. Wenn ein solches Wegbleiben
entdeckt wird, was spätestens bei Eintritt eines Unfalls, der zur
Entschädigung führt, geschehen muß, so tritt nachträgliche Ueber—
weisung in die Berufsgenossenschaft ein; die Versicherung wird auf
den Beginn der Versicherungspflicht zurückdatirt und daraus folgt
die Verpflichtung zur Nachzahlung desjenigen Betrags, welcher in
den bereits verflossenen Jahren hätte gezahlt werden müssen. Dazu
kommen als weitere mißliebige Folgen die Strafen, welche sowohl
der mit der Anmeldung, als auch der mit der rechtzeitigen Anzeige
eines vorgekommenen Unfalls Säumige zu gewärtigen hat (8 104
des Gesetzes). Es ist klar, daß unter diesen Umständen jedem Be—
theiligten dringend zu rathen ist, mit der Anmeldung, selbst wenn
über seine Pflichtigkeit gestritten werden kann, nicht länger zu
zögern. Seine Aufnahme in das Gepnossenschaftskataster erfolgt
nach vorgängiger Prüfung seiner Zugehörigkeit zur Genossenschaft.
Gegen dieselbe steht ihm dann immer noch die Beschwerde an das
Reichsversicherunggamt zu. (Näheres s. 8 37 des Ges.
Gegenstand der Versicherung ist der Ersatz des Schadens,
welcher durch Körperverletzung oder Tödtung entsteht, wenn die—
selben unmittelbar oder mittelbar als Folge eines bei dem Betriebe
sich ereignenden Unfalls sich darstellen. Der Unfall muß sich „bei
dem Betriebe“ ereignet haben. Gleichgiltig ist, ob der Unfall
durch Zufall, durch Verschulden (selbst grobes Verschulden) des
Verletzten, des Unternehmers oder eines Dritten eingetreten ist.
Nur wenn der Verletzte den Betriebsunfall vorsätzlich herbeigeführt
hat, fällt der Entschädigungsanspruch weg. Wie man sieht, hat
hier das Unfallversicherungsgesetz gegenüber dem Haftpilichtgesetz
von 1871 einen eutschiedenen Fortschritt gemacht, da es — die
Entschädigung für Betriebsunfälle als einen Theil der Betriebs—
kosten auffassend — die Schuldfrage bei Seite läßt und, jedem
verunglückten Arbeiter bezw. seinen Hinterbliebenen die gesetzliche
Rente sichert.
Umfang der Entschädigung. Der Schadensersatz besteht:
A. bei einer körperlichen Verletzung
1) in Erstattung der Kosten des Heilverfahrens, jedoch erst
vom Beginn der 14. Woche nach Eintritt des Unfalls an,
in Gewaͤhrung einer Rente (näheres s. 8S 5 des Ges.)
für die Dauer der Erwerbsunfähigkeit, aber ebenfalls
erst von dem ebengenannten Zeitpunkt an;
Falle der Tödtung ist außerdem noch zu leisten:
als Ersatz der Beerdigungskosten das Mfache des für den
Arbeitstag ermittelten Verdienstes, mindestens jedoch
30 Mk.; —
eine vom Todestag an laufende Rente für die Hinter—
bliebenen des Getoͤdteten (Näheres hierüber s. 86 des
Ges.).
Durch die auf 13 Wochen festgesetzte Karenzzeit wird uun
allerdings ein hoher Bruchtheil der sämmtlichen Unfälle auf die
Krankenkassen abgewälzt. Man hat diesen Bruchtheil zu 92 Proz.
berechnet; ja es wird manche Betriebe geben, wo auch dieser hohe
Prozentsatz noch zu niedrig, wo die Unfälle fast ohne Ausnahme
leichterer“ Natur“ sind und also den Krankenkassen zufallen, zu
welchen die Arbeiter beitragspflichtig sind. Vom Anfang der
5. Woche nach Eintritt des Unfalls an bis zum Ablauf der
13. Woche jedoch ist das Krankengeld, das auf Grund des Kranken—
versicherungsgesetzes gewährt wird, auf mindestens 2/. des bei
der Berechnung zu Grunde gelegten Arbeitslohns zu bemessen.
Hierbei, hat der betreffende Betriebsunternehmer der betheiligten
trankenkasse die, Differenz zwischen diesen 273 und dem gesetzlich
oder statutengemäß zu gewährenden niedrigeren Krankengeld zu
erstatten.
Träger der Versicherung. Die Pflicht, den obengenannten
Schadensersatz zu leisten, liegt den Betriebsunternehmern vb. Da
aber das Risiko der Unfallversicherung nur von größeren Kreisen
zetragen werden kann, so bedingt die Erfüllung dieser Pflicht die
Bereinigung der Betriebsunternehmer zu größeren Verbänden. Die
Bliederung dieser Verbände ist auf der Grundlage der Gemeiu—
jamkeit des Berufs erfolgt; je die gleichen und verwandten In—
zustriezweige sind in Berufsgenossenschaften — bis jetzt 57 an der
Zahl — abgetheilt, auf welche das Gesetz die Unfallversicherung
übertragen hat. Eine Aufzählung dieser Berufsgenossenschaften
mit Angabe der Industriezweige, welche unter jede einzelne Berufs—
genossenschaft fallen, findet sich in den Bekanntmachungen des
K. Ministeriums des Innern vom 6. Juni und 24. September d. J,
ibgedruckt im Reg.Bl. 1885 Nr. 25 S. 194 ff. und Nr. 38
S. 381. Diese Berufsgenossenschaften sind theilweise noch in eine
Anzahl von Sektionen gegliedert und haben als örtliche Genossen—
chaftsorgane auch noch eigene sogen. Vertrauensmänner anfgestellt.
Die Auszahlung der zu leistenden Entschädigungen wird auf
Anweisung des Genossenschaftsvorstandes vorschußweise zunächsf
zurch die Postverwaltungen bewirkt; nach Ablauf jedes Rechnungs—
ahrs erfolgt durch die Postverwaltungen eine Liquidation der von
ihnen im Laufe des Jahres ausbezahlten Beträge, worauf zum
Ersatz derselben eine Umlage auf die Betriebsunternehmer nach
Maßgabe der in ihren Betrieben von den Versicherten verdienten
Löhne und Gehälter, bezw. des Jahres Arbeitsverdienstes jugend—
licher und nicht ausgebildeter Arbeiter, sowie nach Maßaabe der
tatutenmäßigen Gefahrentarife erfolgt.
Verfahren. Alle in einem versicherten Betrieb eintretenden
Unfälle, durch welche eine darin beschäftigte Person eine mehr als
dreitägige Arbeitsunfähigkeit verursachende Körperverletzung oder
den Tod erlitten hat, müssen durch die Betriebsunternehmer ꝛc.
nach einem besonderen — vom Reichsversicherungsamt aufgestellten
— Formular bei der Ortspolizeibehörde sofort schriftlich augezeigt
werden (näheres s. F 51 des Ges.). Außerdem sind dieselben
durch statutarische Bestimmungen, welche bei allen Berufsgenossen—
chaiten wiederkehren, gehalten, von diesen Unfallsanzeigen gleich—
itig eine Abschrift an die Organe ehrer Berufsgenossenschaff
Bertrauensann, Soöoncvorstand, Gemyossenschaftsvorstand) ein—
zusenden. Jeder zur Anzeige gelangte Unfall, wodurch eine ver—
icherte Person getödtet ist oder eine Körperverletzung erlitten hat,
die voraussichtlich den Tod oder eine Erwerbsunfähigkeit von mehr
als 13 Wochen zur Folge haben wird, ist von der Ortspolizei—
hehörde einer Untersuchung zu unterziehen, an welcher theilnehmen
önnen: Vertreter der Genossenschaft, der von dem Vorstande der
nitbetheiligten Krankenkasse gewählte Bevollmächtigte, der Betriebs—
internehmer in Person oder dessen Vertreter und selbstverständlich
zuch der Verletzte oder dessen Vertreter. Die Feststellung der Ent—
chädigung erfolgt durch die Vorstände und zwar — sofern die
Benossenschaft in Sektionen eingetheilt ist — durch den Sektious—
vorstand, wenn es sich um die Heilungskosten, oder um die für
die Dauer einer voraussichtlich temporären Erwerbsunfähigkeit zu
gewährenden Rente oder um den Ersatz der Beerdigungskosten
jandelt, in allen übrigen Fällen durch den Vorstand der Berufs—
jenofsenschaft. Eine erste Berufungsinstanz gegen dessen Bescheide
zildet ein Schiedsgericht, welches aus einem öffentlichen Beamten
als ständigem Vorsitzenden, 2 Vertretern der Berufsgenossenschaft
bezw. Seklion und 2 Arbeitervertretern besteht und an welches die
Berufung bei Vermeidung des Ausschlusses binnen 4 Wochen nach
Zustellung des Bescheides zu erheben ist. Gegen dessen Entscheidung
endlich geht unter gewissen Voraussetzungen (näheres s. F 63 des
Ges.) der Rekurs an das Reichsversicherungsamt.
Mittheilungen aus der Praxis
Neue Lohnzahlungsmethode. Wie die Zeitschriff
„Arbeiterversorgung““ mittheilt, hat man im „Familisterium“ zu
huise in Fraukreich, einer 1400 Arbeiter zählenden, höchst originell
eingerichteken Fabrik gußeiserner Waaren, zur Fördernng der
Mäßigkeit mit einer interessanten Lohnzahlungsmethode vortreffliche
Refultate erzielt. Die Arbeiter dort erhalten ihren Lohn nicht
wvöchentlich, sondern alle 14 Tage. Die Auszahlung findet nicht
in einem bestimmten Tage, sondern innerhalb 14 Tagen an vier
verschiedenen Wochentagen statt. Das Personal des „Familisteriums“
ist nach dem Alphabet geordnet und in 4 gleich große Abtheilunger
detheilt. Die eine Abtheilung empfänat ihren Lohn am Dienstag