zur Arbeiterwobungirage
27
Zur Arbeiterwohnungsfrage.
In der Friedrichstraße Nr. 177 in Berlin ist dem Publikum
gegenwärtig eine Ausstellung von kleineren Wohnhäusern für
Arbeiter, Handwerker und kleine Beanite geboten. Dieselbe ist
vom Vorstande des Herrenkreises von St. Michael eingerichtet
und soll ein Versuch sein, ein Bild dessen zu geben, was bisher
in der Arbeiterwohnungsfrage zu Berlin verhandelt, geschrieben
und gethan worden ist. Es ist keine glänzende, auf die Schau—
lust des Publikums berechnete Veranstaltung, der Besuch der
Ausstellung regt aber in hehem Maaße zum Studium an
und dürfte leicht von größester Tragweite für die Entwicklung
des Berliner Lebens sein. November 1888 und Februar dieses
Jahres hatte der Herrenkreis zu St. Michael ein Preisausschreiben
für den Bau kleiner Häuser in der Umgebung von Berlin erlassen.
Trotz der beschränkten Zahl der Preise — 300, 300, 200 Mt.
bei der ersten Ausschreibung, 250) Mk. bei der zweiten — sind
mehrere hundert Bewerbungen eingelaufen, die in perjönlicher,
sorgfältiger Einzelarbeit und demnächst in vier gemeinsamen,
mebrstündigen Sizungen eingehend geprüft und genau erwogen
wurden. Das Preisrichterkollegium war aus Fachleuten zusammen—
gesetzt, aus den Herren Gebheimer Ober-NRegierungs- und Bau—
Rath Spieker, Rathszimmermeister E. Baltz, Stadtbaurath
Blankenstein, Geheimer Baurath Lorenz, Regierungs und Bau—
Rath Weber, Regierungs- und Bau-Rath F. Schulze und dem
prakt. Arzt Dr. Bensch. Letzterer wird bei Ausübung seines
ärztlichen Berufes viel in die Arbeiterkreise geführt: es 'ist seine
Welt; er kennt ihre Bedürfnisse genau. Bensch ist also Sach—
verständiger auf diesem Gebiet; die Ausftellung in der Friedrich—
straße ist zumeist sein Werk. Außer Herrn Dr. Bensch und dem
Herrenkreis St. Michael haben sich an der Ausstellung betheiligt
in Berlin das bpgienische Museum, die Magistratsbibliothek, die
gemeinnützige Baugesellschaft und Alerandraftiftung, der „Verein
ür die Armen“; ferner der Centralverein und der Lokalverein
„Arbeiterheim“ in Bielefeld, fast sämmliche Preisbewerber, sowie
eine große Zabl Verfasser oder Verleger von Schriften u. s. w.,
die auf die Arbeiterwohnungsfrage Bezug haben. Es ist ein
ebr reiches, fast lückenloses Material pon Statuten, Jabres.
—
sonstigen Druckschriften aller Art, Karten und Plänen, Skizzen,
Bauentwürfen mit Grundriß, Aufriß, Durchschnitt, ausgeführten
Fassaden und Detailzeichnung, bei denen manche Bewerber freilich
des Guten zu viel gethän haben, zu wenig in den Grenzen ihrer
Aufgaben geblieben sind; ferner Modelle von Arbeiterhäufern
und Photographieen ausgeführter Bauten. Die Ausstellung ist
eine blendende Schaustellung, ist nicht auf bloße Unterhaltung
müßiger Leute berechnet; ihren sehr hehen Werth erkennt abet
Derjenige, welcher sich die Mühe giebt, das gebotene teiche Material
ciner sorgfältigen Durchsicht, wenn mößlich, einer eingehenden
Prüfung zu unterwerfen: diese Ausstellung verdient im'höchsten
Maaße die Anerkennung der Arbeiterwelt 'und aller Derjenigen,
denen das Arbeiterwohl am Herzen liegt; sie verdient durchaus
einen viel lebhafteren Besuch, als ihr bisher zu Theil wurde.
Im Gegensatz zu den gegenwärtigen Arbeiterwohnungen
Berlins, zu den Miethskasernen der großen Städte überbauüpt,
waren bei den Preisausschreibungen auüsschließlich kleine Häuser
Jefordert, mit einer und mit zwei Wohnungen; nur wenn zwei
Häufer so aneinander gebaut werden sollen, daß sie ganz ge—
trennte Hälften eines Gebäudes bilden, waren 3224 Wohnungen
unter einem Dache gestattet. Ju dem Preisausschreiben vom
November vorigen Jahres waren Wobnungen von zwei Stuben,
Kammer, Küche, Keller, Flur, Dachboden, Ziegenstall verlangt
und Wohnungen von einer Stube, Kammer, Küche ꝛc. Die Wohn-—
stuben sollten mindestens 20 Dm, die Küche mindestens 15 Im,
—VV mindestens
.m, Grundfläche haben; die Schlafkammer sollte heizbar sein.
Für die beste Loͤsung dieser Aufgabe erhielt den ersten Preis
Herr Anton Käppler, Ärchitekt in Leipzig, den zweiten Preis die
derren P. Jakobi und P. Jäger in Berlin, den dritten Preis
Architekt Correns in Ratibor q. D. Die Erwägung, daß die
Mehrzahl der Arbeiter nie billig genug wohnen kann, wenn man
es erreichen will, daß das Ein- oder? Zwei-Familienbaus in der
Arbeiterwelt eine verbreitete Wohnungsform werde, wenn man
der Aftermiethung, der Annahme von Mitbewohnern und Schlaf—
stellern vorbengen will, in sittlicher Hinsicht eine Hauptgefabr
ür das Familienleben der Arbeiterwelt, veranlaßten den Herren—
reis St. Michael im Februar dieses Jahres ein zweites Preis—
usschreiben zu erlassen, durch welches die Entwürfe für noch
leinere Wohnungen und Hänser verlangt wurden: die Wohn—
tube sollte nur 200)m, die Küche 10 TIn, der Keller 5..Im Grund—
läche haben, Flur und Dachboden dem entsprechen. Die Bau—
osten sollten sich für ein Haus mit einer Wohnung auf 2000 Mk.,
ür ein Gebäude von zwei Wohnuungen auf 2800 Mk— stellen.
Bei diesem zweiten Wettbewerb erhielt den einzigen Preis von
»50 Mk. eine Arbeit, die das sehr passend gewählte Motto trug:
Eigener Heerd!“ Auch diese beste Lösung der gestellten Auf—
sabe war von Anton Käppler in Leipzig eingesandt worden.
Zum Ankauf hatte das Preisrichterkollegium außerdem empfohlen:
aus den Eingängen für die erste Ausschreibung einen Entwurf
»es Architekten Karl Timmler in Jena; von den Einsendungen
ür die zweite Konkurrenz eine Arbeit des Regierungsbaumeisters
Tiffenbach zu Ortelsburg in Ostpreußen und eine Arbeit des
Architekten Maaß zu Berlin. Die Bausummen, um welche es
ich bei dem ersten Ausschreiben handelte, waren 3500 bezw.
2500 Mk. für Häuser mit einer, 5500 bezw. 4200 Mk. für
Hebäude mit zwei Wohnungen. Zur Verzinsung des Baukapitals
nit 5 pCEt. wären für die Entwürfe beider Konkurrenzen 175,
25 und 100, bezw. 1372/, 105 und 70 Mk. jährlicher Miethe
erforderlich. Den Kostenanschlägen sind die von der Berliner
Harnison-Verwaltung gezahlten Preise für 1887 zu Grunde
gelegt, nach Abzug von 25—30 pEt, die bei einer fabrikmäßigen
Musführung von gleichzeitig 100 — 1000 solcher Häuser, nach dem
Vorbilde ähnlicher Unternehmungen in England und Amerika,
erspart werden können. — Außerhalb des heutigen Weichbildes
»on Berlin ist allüberall auf bestem Baugrund, an schon ge—
auten Straßen, in nächster Nähe des Vorort- und Ringbahn—
Verkehrs ungemessenes Land zu haben für 10, 20—30 Mk. die
IRuthe: man kann also leicht das nöthige Bauland für Haus,
Harten, Straßenantheil für wenige hundert Mk. erwerben, hat
»s nicht einmal nöthig, so weit zu gehen, wie die „Berliner
Baugenossenschaft“ mit ihrer ersten Ansiedlung in Adlershof ge—
Jangen ist, welche, an der Görlitzer Bahn gelegen, vom Görlitzer
Babnbof aus mit der Bahn in 20 Minuten, vom Bahnhof
Friedrichstraße aus in 45 Minuten zu erreichen ist.
Gerade das außerordentlich verdienstvolle Unternehmen der
Berliner Baugenossenschaft, welche auf Anregung des „Zentral—
zereins für das Wehl der arbeitenden Klassen“ entstanden und
vesentlich durch die Thätigkeit des Reichstagsabgeordneten Herrn
Zchrader, ihres Vorsitzenden, und des Herrn Baumeisters Wohl-—
zemuth in's Leben gerufen ist, kann als bester Beweis dafür
ingeführt werden, daß es möglich erscheint, die geplanten volks—
reundlichen Unternehmungen zur Durchführung zu bringen,
venn dem guten Willen der Arbeiterfreunde der gute Wille der
Arbeiter selbst entspricht: an diesem aber ist trotz mancher gegen—
heiliger Behauptungen nicht zu zweifeln. Ich will hier nur noch
nige Angaben machen, die den Jahresberichten der „Berliner
Baugenossenschaft“ entlehnt sind und als unanfechtbares Zahlen—
naterial das Gesagte am besten beleuchten.
Die „Berliner Baugenossenschaft“, eingetragene Genossen—
chaft, ist nach der „Vossischen Ztg.“ den englischen Arbeiter-Bau—
gesellschaften nachgebildet und beruht auf dem Prinzip der Solidar—
zaft der Genossenschafler in der Weise sonstiger Genossenschaften des
Zystems Schultze-Delitzsch. Sommer 1886 mit 28 Mitgliedern be—
ruͤndet, errichtete die Genossenschaft das erste Haus in demselben
dahre, mit Unterstützung des Herrn Bankier Weisbach; 1887 wurde
as zweite Haus für einen Genossenschafter erbaut; 1888 wurden 6
däuser und in diesem Sommer werden 17 Gebäude in Adlershof er—
ichtet, zumal weiteres Kapital der Genossenschaft zur Verfügung ge—
tellt ist, die am 1. Januar 1887 103, am 1. Januar 1889
261 Mitglieder zählte und März 1889 sogar auf eine Ziffer
»on 350 Genossen gelangt ist. — Mitglied der Genossenschaft
zarf ein Jeder werden, der sich zur Erwerbung eines Geschäfts—
intheils von mindestens 200 Mk. verpflichtet, welche Summe
allmälig durch Wochenbeiträge von mindestens 40 Pf. eingezahlt
verden kann. Jeder Genosfenschafter, der mindestens , Jahr
Mitglied der Genossenschaft ist und mindestens 20 Mk. ge—
chäftsantheil besitzt, kaun sich zum Erwerbe eines neu errich—
elen Hauses melden: bei mehreren Bewerbern entscheidet unter
Umständen das Loos. Der Erwerber übernimmt das Grund—
fück mit allen Pflichten des Eigenthümers. während die Ge—