Full text: Deutsches Baugewerks-Blatt : Wochenschr. für d. Interessen d. prakt. Baugewerks (Jg. 53, Bd. 12, 1893)

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Schein-Architekturen. — Jeichen der Zei 
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Jahre 63 selbst diejenigen an den Monumentalbauten zum Theil 
aus dem minderwerthigen, unsoliden Material hergestellt hat, — 
wer mag es sicher entscheiden! Sie sind verschwunden, wie 
Talmigold nach wenig Jahren verschwindet, — eine langdauernde 
Garautie kann da Niemand ühbernehnien. 
Aber heutzutage sind sie da, die Schein- oder Talmi— 
Architekruren, sie sind in Wahrheit im Gebrauch und an einzelnen 
Orten sogar zur Gewohnheit geworden. Unsere schnelllebige Zeit 
betrachtet die Kunst, auch die architektonische, als eine Mode— 
sache. Wie leicht aber wechselt eine Modelaune! Wozu soll 
man auf Jahrhunderte hinaus denken und schaffen! Bestimmt 
doch die Tagesmode in der Erscheinung des civilisirten Menschen 
nur den äußeren Zuschnitt, und der eifrigen Fabrikation bleibt 
es überlassen, den Stoff im neuesten Muster bis zur fabelhaften 
Billigkeit zu erzeugen. So kanu ein Jeder die Mode mitmachen, 
und die Sucht nach Veräuderung muß in demselben Grade 
wachsen, als die Haltharkeit des Vorhandenen in Frage gestellt 
ist. Und wie der Mensch, so sein Heim! — Nur zu deutlich 
tragen unsere schuell emporblühenden Städte den Stempel dieser 
Modeherrschaft an sich. Was das archäologische Studium aus 
alten Trümmerhaufen Schönes herausgegraben, was der talent— 
volle Baumeister aus eigenem Geiste oder in künstlerischer Be— 
herrschung eines Baustyles geschaffen, — es wird zum Gemeingut 
durch die Imitation, die keinen Musterschutz respektirt und für 
Reich und Arm, für Vornehm und Gering, für den Kunstverständigen 
und den Laien dasselbe Hausgewand als passend erachtet. Das 
billigste Ersatzmittel muß herbeigeschafft werden, um auch dem un— 
bedeutendsten Miethshause die Erscheinung eines stylgerechten 
Palazzo zu geben. Mit Hilfe von Gypsstuck oder, — wie man 
nicht ohne Selbstbewnßtsein erwähnt, — von Cementmörtel, 
kann jede beliebige Stylweise auf die Façcade übertragen werden. 
Für den Manerkamm aber genügt der schlechteste Ausschuß der 
gewöhnlichen Backsteine! 
Wollen wir dies hier beklagen? Das ist schon so viel und 
so oft ohne Nutzen geschehen, daß es langweilig werden würde. 
Und, was wollen wir! Ist doch selbst im alten oder vielmehr 
im neuen Rom die Putzarchitektur die vorherrschende, — wer 
möchte da Berlin, Wien oder Budapest arg tadeln! Wenn aber 
nun diese Putzarchitektur noch lange nicht das Schlimmste wäre, 
wenn man sie noch „Gold'“ nennen konnte, im Gegensatz zu dem 
billigen „Talmi“, das an der äußeren Facadenerscheinung anfängt, 
sich breit zu machen! Ein Blick auf einige diesbezügliche Er— 
scheinungen in unserer modernen Architektur mag uns belehren. 
Von den italienischen Städten berührt Florenz durch seine 
soliden und meist in guter Rengissance durchgeführten Neubauten 
neben Bologna am angenchmsten. Aber etwas Talmi findet 
man auch hier! Wenn man die herrlichen Stadtpromenaden 
durchstreift, oder wenn man die steile Bergstraße nach dem 
reizenden Fiesole hinaufpilgert, so begegnet das Auge einer 
Menge von Neubauten, die den florentinischen Villenstyl im Sinne 
der früheren Hochrenaissance recht wohlthuend wiedergeben. Es 
ist die edle Architekturrichtung eines Palazzo Pandolfini, welche 
hier in echtem Material und zumeist schönen Verhältnissen neue 
Triumphe feiert. Aber, wenn neben oder vor dem Landhause 
noch Wirthschaftsgebäude nöthig wurden, so hat der florentinische 
Architekt oder vielmehr der Dekorationsmaler zu einer höchst 
sonderbaren Lösung der Facçade seine Zuflucht genommen. — 
Der Palazzostyl war hierbei freilich nich am Platze; man 
wollte also das „Ländliche“ zur Erscheinung bringen. Und so 
sehen wir denn oft neben der geschmackvollen und stylgerechten 
Villenfacade ein Haus, welches an seiner Außenwand genau 
wie eine Almhütte dekorirt erscheint. Da ist die Bretterverkleidung 
getreulich in Farbe nachgeahmt, da steht eine Luke halb offen, 
ein gemalter Eimer hängt an einem gemalten Haken, Garten— 
und Wirthschaftsgeräthe lehnen wie zufällig an der Wand, — 
natürlich alles in genauester Nachahmung, in Farbe mit tiefem 
Schlagschatten, sodaß ein Laienduge faft an die Wirklichkeit 
dieser Almhütte glauben moͤchte. Wahrlich, eine wunderliche 
Mode der Dekoration, — vielleicht auch ein Beweis für die 
Schwäche einer Architekturrichtung, welche, ohne zu lügen, für 
gewisse Zwecke eine Lösung nicht mehr zu finden weiß, — 
immerhin aber schon etwas Talmi! — Einer anderen Verirrung 
begegnen wir in Genua, oder genauer gesagt, in der Umgebung 
dieser herrlich gelegenen Stadt. Da, 'wo' an der Riviera die 
Berge steil in das Meer hinabfallen und in ihren vielgestaltigen 
Formen fruchthare Mulden mit üppiger südlicher Vegelation ein— 
schließen, echeben sich längs der Vteeresküste reizende Villen— 
Städte, die mit ihren farbenreichen Façaden zwischen dem 
dunklen Lanb der Lorbeeren und Cypressen ihren bezaubernden 
Eindruck auf den Vassanten nicht verfehlen. Freilich, weun man 
den vielstöckigen Häusern etwas näher tritt, dann schwindet die 
Illusion ein wenig; denn man sieht in Wahrheit keine Villen 
»der Hötelbauten, sondern hohe Kasten, die all' ihren architek— 
onischen Schmuck nur dem Maler verdanken. In leuchtenden 
Farben, meist roth auf gelblichem Grunde ader umgekehrt, hat 
sier der Façadenmaler eine reiche Renaissance-Architektur auf die 
absolut glatte Wand gezaubert, die mit ihren kräftigen gemalten 
Schatten zu den hellgrünen Jalousieen der Fenster in eine un— 
jemein lebhafte Wechselwirkung tritt. Wie auf dem Reißbrett 
des Zeichners erscheinen uns jene farbigen Architekturen; da ist 
auch nicht das geringste Relief, welches nicht gezeichnet und nach 
den Regeln der Kunst unter 45 Grad seinen Schlag- oder 
örperschatten erhalten hätte. Da stehen gemalte Figuren in 
gemalten Nischen, da krönen reiche Giebel mit üppigen Füllungen 
die Fenster und alles dies ist nur erlogen, nur auf den Effekt 
berechnet. Wahrlich, der Italiener weiß seine heimische Kunst 
in ihrer Wirkung wohl hoch zu schätzen, — aber er mag sie 
nicht gern bezahlen! Und diese Ausläufer der neuesten italienischen 
Renaissance sieht man nicht etwa vereinzelt, sondern in Massen 
aAs ganze Städtchen, wie die Orte von Spezia bis Genua zur 
Henüge beweisen. 
Jetzt könnte uns aber Jemand darauf hinweisen, vor der 
eigenen Thür zu kehren, statt kritisirend die Architektur-Sünden 
anderer Nationen aufzudecken. Nun wohl, auch bei uns ist die 
Talmi-Architektur im Schwunge, wo und wie, werden wir ein 
anderesmal bezeichnen. 
Der Geschmack ist verschieden, sagt man; das müßte aber 
heißen: der Geschmack ist verschieden ausgebildet bei verschiedenen 
Menschen; der wahre Geschmack kann aber niemals verschieden 
sein. Holz und Gyps sind zwei gefährliche Materialien in den 
Händen dessen, der leichtsinnig damit umgeht, ganz besonders, 
wenn er als Fachmann etwas von der Kunst versteht. Es läßt 
sich ohne große Mühe freilich Alles daraus machen, aber die 
Mache bleibt immer dieselbe und somit die Wirkung immer stets 
die gleiche. Bei dem Publikum findet aber nur' zu leicht die 
Meinung Verbreitung, daß mit unverhältnißmäßig wenig Geld 
doch etwas Schönes, ja Prunkvolles zu haben sei und die Mode 
thut dann das Uebrige, jeden Schritt vorwärts auf dem Gebiete 
der Architektur gänzlich unmöglich zu machen. H. VJ. 
s(„Bauzeita. f. Undatu“.) 
Zeichen der Zeit. 
Das Gesammtbild, das der neueste Bericht über die Hypo— 
thekenbewegung im preußischen Staate gewährt, der das Jahr 
1891,92 umfaßt, setzt sich aus ähnlichen Zügen zusammen, wie 
schon in den Vorjahren. Der Zuwachs der Hypothekenbelastung 
var in den Städten mit 759,36 Millionen Mk. größer, als in 
jedem der fünf Vorjahre, mit Ausnahme des Jahres 1889, wo 
er 814,88 Millionen betrug. Die Gesammtverschuldung der 
ändlichen Gebiete hat seit 1886/87 um 883 Miillionen, seit zehn 
Jahren also wohl um etwa 1500 Millionen Mk., d. h. um mehr 
als das 31,fache des Reinertrages zugenommen. Hat sich, wie 
anzunehmen ist, diese Zunahme gleichmäßig auf die einzelnen 
Besitzklassen vertheilt, so würde sich für die Gegenwart eine Ver— 
schuldung des (allodialen) größeren Grundbesitzes um an— 
nähernd das 62fache, des mittelbäuerlichen und kleinbäuerlichen 
um reichlich das 21- bis 22fache des Grundsteuer-Reinertrages 
ergeben. Mit anderen Worten: Der bäuerliche Grundbesitz hat 
in den letzten zehn Jahren die Verschuldung seines ersten und 
desten Werthdrittels vollendet und fängt an, das zweite fortzu— 
geben; der größere Grundbesitz dagegen, der 1882 durchschnittlich 
noch die größere Hälfte des Bodenwerthes sein eigen nannte, 
muß sich gegenwärtig mit der nicht nur weniger sicheren, 
ondern auch kleineren begnügen und geht langsam, aber regel— 
mäßig einem Zustande entgegen, bei dem die Meehrheit seiner 
Angehörigen als überschuldet gelten muß. — Faßt man übrigens 
die unbestreitbare Thatsache in's Auge, daß die Verschuldung 
ich keineswegs auf den städtischen und ländlichen Grundbesitz 
»eschränkt, sondern die Besitzer beweglicher Sachgüter, insbesondere 
die kaufmännischen und gewerblichen- Unternehmer, vielfach ganz 
ebenso trifft, so gewinnt es den Anschein, daß es sich hier gar 
nicht um eine Frage des Grundbesitzes allein handelt, sondern 
um eine des produktiven Sachbesitzes überhaupt. Die soziale 
Frage der Gegenwart erschöpft sich nicht in der Spaltung zwischen 
Besitz und Nichtbesitz, sondern der Besitz selber spaltet sich mehr 
ind mehr in zweierlei Formen, den Sachbesitz und den Renten— 
zesitz, die sich unter einander zum Theil schon ebenso schroff 
gegenüberstehen, wie der gesammte Besitz dem Nichtbesitzer. Der 
Rentenbesitz nimmt die wesentlichsten Besitzvortheile, insbesonder⸗
	        
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