Der Lehrvertrag.
Der Lehrvertrag.
Rachdem am 1. April d. Is. von den durch das Reichs—
gesetz vom 26. Juli 1897 eingeführten Bestimmungen über
das Lehrlingswefen die zz 126—–128 in Rraft getreten sind,
ist es Pflicht der Gewerbetreibenden, sich mit den neuen Vor—
schriften bekannt zu machen. Zu diesem Zweck wollen wir die
—V—— folgendem
nälhser betrachten.
Nach dem bisherigen Rechte war für die Eingehung des
Lehrvertrages eine bestimmte Form nicht vorgeschrieben; an
die schriftliche Abfassung des Vertrages waren ganz wesentliche
Vortheile geknüpft, welche die Betheiligten zur Schriftlichkeit
des Vertrages im eigenen Interesse veranlassen sollten. Der
81266b des jetzt geltenden Gesetzes aber schreibt vor:
„Der Lehrvertrag ist binnen vier Wochen nach Beainn
der Vehre schriftlich abzufassen.“
Damit ist durch das Gesetz die schriftliche Form obligätorisch
gemacht. Das Gesetz schreibt ferner vor, daß der Lehrvertrag
von dem Lehrherrn, dem Lehrling und dem Vater oder Vor—
mund des Lehrlings zu unterschreiben und in einem Exremplar
dem Vater oder Vormund des Lehrlings auszuhändigen ist.
Für die Beurtheilung der Frage, ob im einzelnen Fall
ein Lehrverhältniß vorliegt, ist nun aber der Abschluß eines
Lehrvertrages nicht ausschlaggebend. Das Gesetz giebt keine
Definition des Begriffs „Lehrling“. Schon in den Motiven
zur Rovelle vom Jahre 1878 ist darauf hingewiesen worden,
daß jede gesetzliche Bestimmung des Lehrlingsbegriffes bedenklich
erscheine, da sie den Betheiligten leicht eine Handhabe zur Um—
gehung des Gesetzes in solchen Fällen biete, in denen das
eigensichtige Interesse des Lehrherrn oder des Lehrlings oder
gar Beider darauf hinziele, die Anwendung der gesetzlichen
Vorschriften über das Lehrverhältniß, insbesonders die weit—
gehenden gesetzlichen Verpflichtungen des Lehrherrn gegenüber
dem Lehrling auszuschließen. Uebrigens kann eine Begriffs—
bestimmung auch als entbehrlich bezeichnet werden, da es nicht
besonders schwer ist, im Zweifelsfalle festzustellen, ob ein be—
stimmtes Arbeitsverhältniß ein Lehrverhältniß darstellt oder
nicht. Der Entwurf zum jetzigen Gesetz hatte in einem be—
jonderen Paragraphen allgemein die Vermuthung aufgestellt, daß
alle Personen unter siebzehn Jahren, welche mit technischen
Hilfsleistungen in einem Gewerbebetriebe (Groß- oder Klein—
betrieb) nicht lediglich ausnahmsweise oder vorübergehend be—
schäftigt werden, als Lehrlinge gelten sollen. Diese Bestimmung
ist zwar nicht in das Gesetz aufgenemmen worden; trotzdem
entspricht es nach dem Verlauf der Debatte im Reichstage ganz
dem Willen des Gesetzgebers in Uebereinstimmung mit der in
jenem Vorschlage zum Ausdruck gebrachten Anschauung, daß
die Frage, ob ein Lehrverhältniß vorliegt, nach dem Umständen
des einzelnen Falles ohne Rücksicht darauf, ob ein Lehrvertrag
geschlossen ist, ob Lehrgeld gezahlt wird, oder ob die Arbeits—
leistung gegen Lohn erfolgt, zu beurtheilen und im Streitfalle
zu entscheiden ist. Die Bezeichnung, welche die Betheiligten
dem Arbeitsverhältniß geben, ist nicht maaßgebend. Liegt ein
Vertragsverhältniß vor, kraft dessen ein gewerblicher Arbeiter
in ein Arbeitsverhältniß zu dem hauptsächlichen Zweck der
Ausbildung in dem betreffenden Gewerbe oder Gewerbszweige
eingetreten ist, dann ist ein Lehrverhältniß, das hinsichtlich der
beiderseitigen Rechte und Pflichten des Lehrherrn und Lehr—
lings den Bestimmungen der 88 126—128 der Gewerbeordnung
unterliegt, anzunehmen, auch wenn ein Lehrvertrag nicht ab—
geschlossen worden ist, ja selbst, wenn die Betheiligten, um das
Lehrverhältniß zu verschleiern, vereinbart haben sollten, daß die
in den Gewerbetrieb aufgenommene Person als „jugendlicher
Arbeiter“ beschäftigt werde und ein Lehrverhältniß nicht bestehen
solle. Die Ortspolizeibehörde (Bürgermeister, bezw. Bezirksamt)
ist berufen, im Einzelfalle zu prüfen, ob thatsächlich ein Lehr—
verhältniß vorliegt; sie ist berechtigt, die Betheiligten zum
schriftlichen Abschluß des Lehrvertrages zwangasweise anzuhalten,
31266b sagt:
„Der Lehrherr ist verpflichtet, der Ortspolizeibehörde auf
Erfordern den Lehrvertrag einzureichen“
104
Die Betheiligten (Lehrherr und Lehrling) sind also nicht
in der Lage, einfach durch Unterlassung des Abschlusses eines
„Lehrvertrags“ die Bes immungen über das Lehrlingswesen
ind die Verpflichtungen des Lehrherrn, die in 8 127 und
1274 erweitert uͤnd schärfer fixirt worden sind, zu umgehen.
Im Interesse beider Theile aber liegt die schriftliche Abfassung
des Lehrvertrages, die für die Klarstellung der beiderseitigen
Rechte und Pflichten von wesentlicher Bedeutung ist. Deshalb
hat das Gesetz die schon bisher in Geltung gewesenen Be—
timmungen, welche die Schriftlichkeit des Lehrvertrages fördern
'ollen, in vollem Umfang beibehalten. Hiernach kann nur
unter der Voraussetzung, daß der Lehrvertrag schriftlich ab—
gefaßt ist, im Fall der Auflösung des Lehrverhältnisses vor
Ablauf der im Vertrag bestimmten Lehrzeit von dem Lehrherrn
oder von dem Lehrling Anspruch auf Entschädigung geltend
gemacht werden. Dabei sind folgende Fälle zu unterscheiden:
a) Während der vom Gesetz auf vier Wochen festgesetzten,
durch besondere Vereinbarung im Lehrvertrag bis zur Dauer
hvon drei Monaten zu verlängernden Probezeit kann der Lehr—
»ertrag durch einseiligen Rücktritt des Lehrherrn wie des Lehr—
iings oͤhne Angabe von Gründen aufgelöst werden (8 1276
Abse1 der Gewerbeordnung.) Ein Anspruch auf Entschädigung,
. B. Gewährung von Kost und Wohnung seitens des Lehr—
jerrn, kann nur dann erhoben werden, wenn dieses im Vehr—
Jertrag unter gleichzeitiger Festsetzung der Art und Höhe des
Schadenersatzes ausdrücklich vereinbart ist. Zur Wahrung des
Entschädigungsanspruches ist also die alsbaldige Abschließnng
des Vertrages nach Aufnahme des Lehrlings nöthig. Wird
der Vertragsabschluß, wie es bisher vielfach geschehen ist, bis
nach Ablauf der Probezeit verschoben, so faͤllt der Anspruch
auf Schadenersatz weg.
An die gleiche Bedingung ist der Entschädigungsanspruch
für den Fall der Auflösung des Vertrags durch den Tod des
Lehrlings und bezw. des Lehrherrn geknüpft.
bp) Nach Ablauf der Probezeit kann der Lehrherr das
Lehrveihäliniß nur aus den im Verltrage vereinbarten be—
onderen, bezp. den in 8 127b Abs. 2 in Verbindung mit
ʒ 123 der Gewerbeordnung im einzelnen vorgesehenen sofortigen
Entlassungsgründen (z. B. Diebstahl, Unterschlagung, Betrug,
Sachbeschaͤdigung, unvorsichtiges Umgehen mit Feuer und Licht,
iederlicher Lebeuüswandel des Lehrlings, sowie wiederholte Ver—
ebzung der dem Lehrling obliegenden Pflichten, Vernachlässigung
des Besuches der Fortbildungs- oder Gewerbeschule) einseitig
nuflösen, den Lehrling vorzeitig entlassen und wegen Nichter—
füllung des Vertrags Entschädigung beanspruchen. Die Art
ind Höhe der Entschädigung braucht für diesen Fall im Ver—
rage selbst nicht festgeseßzt zu werden; sie wird eventunell vom
Gericht nach freiem Ermessen bestimmt.
Den gleichen Entschädigungsanspruch hat der Lehrherr
auch, wenn der Lehrling vor Beendigung der vertragsmäßigen
Lehrzeit unter Beobachtung der Vorschrift des 8 1276 der
Gewerbeordnung zu einem anderen Berufe übergeht.
Giebt das Verhalten des Lehrherrn nach Maaßgabe des
8127b6 Abs. 3 Anlaß zur vorzeitigen Auflösung des Lehr—
bertrags, so ist er dem Lehrling zur Entschädigung verpflichtet.
c) Ist der Lehrling unbefugterweise aus der Lehre ent—
laufen, so kann der Lehrherr entweder die zwangsweise Zurück—
führung des Lehrlings bei der Ortspolizeibehörde gemäß 127
der Gewerbeordnung beantragen, oder unter Verzicht auf die
Rückkehr des Lehrlings das Lehrverhältniß auslösen und Ent—
schädigung beanspruchen. Enthält der Lehrvertrag über die
döhe derselben keine Bestimmung, so wird die Entschädigung
dom Gerichte auf einen Betrag festgesetzt, welcher für jeden
dem Tag des WVertragsbruchs folgenden Tag der Lehrzeit,
yöchstens aber für sechs Monate, bis auf die Hälfte des in
dem Gewerbe des Lehrherrn einem Gesellen ortsüblich gezahlten
Lohnes sich belaufen darf (5 1278 der Gewerbeordnung.)
Dieser letztere, durch das neue Gesetz festgelegte Höchstbetrag
darf jedenfalls nicht überschritten werden. Für die Zahlung
dieser Entschädigung haften kraft des Gesetzes als Selbst
schuldner der Vater des Lehrlingas, sowie der Arbeitaeber