Dritter Band.
Gotische Baukunst
Abteilung VIII. Gotik. (12.—15. Jahrhundert.)
Tafel 1. Frühgotische Abteikirche zu
S. Yved zu Braisne (etwa 1189—1216).
Diese Kirche ist eines der wenigen Bei
spiele der französischen Frühgotik, das bis in
unsere Zeit erhalten geblieben ist, ein Werk aus
einem Guß, das die volle Sicherheit des Stiles
zeigt. Was ist nun das Neue, worin liegt
der Wesensunterschied zum Romanischen? Das
Gotische wird vielfach als eine folgerichtige
Weiterentwicklung des Romanischen bezeichnet,
und in der Tat besitzt fast jede gotische Form
romanische Vorläufer. Aber diese Erklärung ge
nügt nicht und ist nicht ganz zutreffend. Es
ist etwas Neues, Eigenes, das zu der grundsätz
lichen Umstimmung führt, ein Grundgedanke,
der offenbar aus ganz anderer Wurzel erwachsen
ist als der, welcher den romanischen Stil ge
zeugt hat.
Wir sahen in der romanischen Periode den
schweren Kampf, den die Vorstellung vom Raum
mit der Konstruktion der Gewölbe führen mußte.
Die vielfältigen Versuche von Einwölbungssystemen
führten zu ganz verschiedenen Typen: Tonnen
gewölbe, sechsteilige und Kreuzgewölbe. Das
Grundlegende für die Gotik war nun, daß einmal
in einem Landstrich Nordfrankreichs die Frage
gründlich angepackt wurde, wie das Kreuzgewölbe
konstruktiv zu verbessern sei, während man sich
in Burgund und in Westdeutschland mit dieser
Aufgabe nie so ernsthaft befaßt hatte. Die Er
findung der Kreuzrippen, die in Frankreich in
der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts gemacht
worden ist, und die Anwendung des Spitzbogens
haben zu der gewaltigen Entwicklung des Gewölbe
baues geführt. Man erkannte, daß bei der Ver
wendung von Rippen die Last der Kappen auf
die Gurt- und Diagonalrippen übertragen werden
konnte, und daß dann die vertikalen Gewölbe
stützen die Hauptträger wurden, die Schildwände
also entlastet waren. Die Anwendung des Spitz
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bogens im Gewölbe brachte den Vorteil, daß die
Pfeilerabstände von verschiedener Spannweite mit
Spitzbögen in gleicher Höhe überwölbt werden
konnten. Man brauchte also nicht mehr die qua
dratische Grundfigur wie im romanisch gebundenen
System, sondern konnte nun über beliebige Rechteck
formen, aber auch über polygonale und freiere
Grundfiguren ein Rippengewölbe spannen. So
wurde wieder ein Einjochsystem möglich an Stelle
der romanischen Anordnung, wo zwei seitliche
Kreuzgewölbequadrate einem großen Mittelschiff
quadrat entsprachen. Damit fiel auch die Grup
pierung der Pfeiler dahin und die ganze Zwei
teilung der Schildwände. Aus der Gruppierung
wurde die einfache Reihung. Aber noch ein Drittes
kam hinzu: das Strebewerk. War schon im
Gewölbe die Trennung von tragenden Rippen und
abschließenden Kappen durchgeführt, so wurde die
Spaltung des Baukörpers noch weiter entwickelt in
der Trennung der Pfeiler und Stützen von den Um
fassungswänden des Raumes. Schon die Römer und
die Byzantiner kannten die Strebepfeiler und Bögen.
Es war also keine neue Erfindung. Aber hier in Frank
reich wurde sie zuerst mit voller Folgerichtigkeit an
gewandt und immer weiter entwickelt. Diese Strebe
pfeiler übernahmen den Schub des Gewölbes, wäh
rend den Jochpfeilern nurdie vertikale Last überlassen
blieb. Die Wände waren nun vollkommen entlastet,
sie hatten gar keine andere Funktion mehr, als zur
Längsversteifung der großen Gewölbepfeiler und
als Raumabschluß zu dienen. Sie konnten nun
ganz durchbrochen werden mit großen Fenstern.
Die Vereinigung dieser drei konstruktiven Grund
lagen: Kreuzrippen, Spitzbogen, Strebewerk, führt
zur Entwickelung des gotischen Bauwerks. Im
Romanischen lag die Hauptaufgabe in der Bewäl
tigung der Raumgruppierung, ln der Gotik siegt
die konstruktive Form. Das haben zuerst klar und
deutlich Dehio und Bezold ausgesprochen,nach
dem viele vorausgegangen sind, welche die Ent-
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