176 China und die Fremden vom Beginn des 19. Jahrh. bis zur Revolution
Die Taiping-Bewegung wurzelt in uralten Gefühlsregungen der
chinesischen Volksseele, wie sie durch die ganze Geschichte bemerkbar
sind, ist aber auch zugleich eine erste große innere Folgeerscheinung
der Berührung mit dem Westen. Sie nahm ihren Ausgang im Süden,
in jener Gegend die durch ihre unruhige Bevölkerunggsart und als ver
hältnismäßig spät vom Norden unterworfenes Kolonialland immer
ein besonderer Herd der Widerstände gegen dessen Herrschaft ge
wesen ist. Ihre Voraussetzung war die durch die Geheimgesell
schaften genährte Unzufriedenheit mit den wirtschaftlichen und poli
tischen Zuständen und richtete sich deshalb gegen die Herrschaft der
Mandschu. Hineinspielten aber auch religiös-mystische Elemente, die
auf unklarer Vermischung tauistischer und buddhistischer Grundlagen
mit dem eindringenden Christentum der Missionare beruhten. Ihr Ur
heber war Hunghsiutschüan, ein Mann einfachster Herkunft aus dem
Hakka-Stamm, geb. 1808 in einem kleinen Dorf etwa 50 km von Kan
ton, der, begabt, aber nach seiner Überzeugung in seiner Literaten
laufbahn zurückgesetzt, zuerst als Dorfschullehrer sein Leben fristete.
Er scheint ein Ekstatiker und Visionär gewesen zu sein; der Mythos,
der ihn später umwob, berichtet von himmlischen Geschichten und
Verkündigungen, die ihm zuteil wurden. Die Lektüre einer Übersetzung
des kleinen Testamentes ließ ihn zu der Ansicht kommen, er sei ein
jüngerer Bruder Christi. Als solcher gründete er eine Sektengemein
schaft auf kommunistischer Grundlage nach apostolischem Muster.
Kommunistische Ideen spielen übrigens auch schon seit alter Zeit
eine Rolle in China. Im Mittelalter hat sogar ein einflußreicher
Staatsmann tatsächlich bereits einen im großen Stil angelegten und
mit Hartnäckigkeit jahrelang durchgeführten Versuch einer soziali
stisch-kommunistischen Gesellschaftsordnung gemacht, der allerdings
bald zu einem völligen Zusammenbruch führte. 1 ) Hunghsiutschüan
hielt sich um 1846 auch eine Zeitlang in Kanton auf und genoß dort
die christliche Unterweisung des amerikanischen Missionars Roberts.
Seine Anhängerschar, unter denen sich ebenfalls Visionen und „Be
rufungen“ zeigten, wuchs bald zu Tausenden. Sie gebärdeten sich sehr
aggressiv, zerstörten buddhistische Götzenbilder und gerieten auch
sonst in Konflikte mit der Bevölkerung und den Behörden, die Sol
daten gegen sie aussendeten. Nun verkündigte Hung seinen Ent
schluß, die Mandschu zu vertreiben und selbst eine eingeborene
Dynastie zu gründen, der er den Namen Taiping, d. h. „allgemeiner
Frieden“ gab; eine Bezeichnung, die durch die folgende Entwicklung
1) Vgl.M. Esterer, Kommunistische Versuche in der chinesischen Geschichte
(Zeitschr. f. Geopolitik, 1929, S. 313).