Die bauliche Entwicklung -K
werden könnte. Oft kann man die Klage hören: Schade, daß dies Bauwerk an der Stelle
steht — das Candesgcwcrbemufeum. Der Platz ist nicht schlecht, aber daß der Architekt dem
Platze, der Umgebung lieh anpassen und einfühlen muß, ist eben eine Empfindung, die erst
jetzt wieder allmählich aufzublühen beginnt. Von Schuld in diesen Dingen zu reden, geht wohl
überhaupt nicht an; von Schuld kann man erst sprechen, wenn, wie dies hier und andernorts
vorkommen mag, aus Rechthaberei und Eigensinn oder in träger Gedankenschwere der Gang
der Dinge bekämpft und gehemmt wird.
6s lohnt sich wohl, die moderne Stadtentwicklung vor den Hintergrund früherer Zeiten
zu stellen. Manches wird dann klarer, manches verständlicher.
Stuttgart ist als Stadtanlage ein schönes Beispiel, um den Unterschied der gewor
denen und der gegründeten Städte darzulegen. Der innere Kern der Hitstadt und die
südöstlich angrenzende St. Ceonhardsvorstadt, welche dem künstlerisch hochstehenden 13. und 14.
Jahrhundert angehören, find typische Stadtbilder der gewordenen Art. 3m ausgesprochensten
Gegensatz dazu steht die nüchtern und witzlos angelegte nördliche Vorstadt, die reiche oder obere
— ein System von rechtwinkelig sich kreuzenden, annähernd gleich breiten, geraden Straßen,
also genau das Jdeal des Städtebaues aus dem 19. Jahrhundert. Huf jener Seite der Königs
straße Vielgestaltigkeit und Leben, hier gedankenlose Nüchternheit. Und trotzdem! wie ungleich
besser nehmen sich noch diese geraden Straßen aus, wo die Geradheit nur eben annähernd
gewollt ist, im Vergleich mit jenen neueren, wo diese edle Eigenschaft dank den mathematischen
„Errungenschaften der Neuzeit voll und ganz erreicht ist!“
So schwer es fällt, sich in die Lebens- und Verkehrsbedürfnisse einer kleinen mittelalter
lichen Stadt zurückzuversetzen, lohnt es sich doch wohl, von allen hochgeschraubten Vorstellungen
unserer Eage absehend, das gewordene und das gegründete Stadtbild von Stuttgart
lediglich nach der praktischen Seite einmal zu betrachten. Es ist ja, nebenbei gesagt, das aus
gerechnet schlimmste, was der neueren Städtebaurichtung geschehen kann, wenn ihr immer nur
sogenannte ästhetische, also nach der Meinung des landläufigen Bildungsphilisters eigentlich un
nötige Beweggründe untergeschoben werden; während doch ihr ganzes Bestreben und ein großer
Ceil ihrer Berechtigung darauf beruht, daß sie von der nur angeblich praktischen und wissen
schaftlichen Geschraubtheit zu nüchtern und ehrlich praktischer Denkweise zurückführen möchte,
zu einer Denkweise, welche allerdings jegliches Schema als den schlimmsten feind gefunden
Lebens nicht freundlich betrachtet.
Die Altstadt hatte, historisch für sich betrachtet, als Verkehrsstraße den Zug: Münzstraße-
Markt-Hirschgasse, für ein kleines Städtchen eine vollkommen ausreichende Ader. Minder wichtig
ist die Querverbindung, weil sie senkrecht zur Errichtung verläuft: Marktgasse-Schulgasse. Alle
anderen üeile werden lediglich dem stillen Mohnen gerecht, in einer Meise allerdings, die den
Anschauungen des Mittelalters und feinen zwingenden Voraussetzungen entsprach, nicht aber
unseren. Also dem Sinne nach ist in der Altstadt genau das zu sehen, was wir in neuerer
Zeit als die Rettung aus der Not unserer Stadtschablone erkannt haben: die grundsätzlich ver
schiedene Behandlung der Verkehrsstraßen und der Mohngebiete.
Schematisch und gedankenarm ist dagegen die obere Vorstadt gegründet, ein Kind ihrer
Zeit, der humanistischen Wissenschaftlichkeit; merkwürdig immerhin als eines der wenigen Bei
spiele aus diesem Zeitalter, in welchem die Richtung zur exakten Denkart sich so unverhüllt
zeigt (vergl. freudenftadt!). Hier find dem Verkehr keine besonderen Bahnen angewiesen; er
kann sich überall gleich gut oder gleich schlecht bewegen, ein Umstand, der bei oberflächlicher
Betrachtung als etwas sehr Wünschenswertes gelten mag und wohl auch gegolten bat.
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