1903 ARCHITEKTONISCHE MONATSHEFTE
Heft 1
bäude abzustufen, wird bereits
ziemlich allgemein anerkannt.
Erscheint es doch dem unbefan-
genen Beurteiler geradezu wider-
sinnig, an kleine Einfamilienhäuser
oder bescheidene Miethäuser der
Vorstädte dieselben Anforderungen
bezüglich der Tragfähigkeit und
Feuersicherheit der Konstruktionen
und Materialien zu stellen, wie an
die öffentlichen Gebäude oder die
grossen Warenhäuser, in denen
Hunderte und Tausende aus- und
eingehen. Werden unsre beschei-
denen Wohnhäuser wirklich meh-
reren Generationen zu dienen haben
oder wird nicht die bei weitem
überwiegende Mehrzahl derselben
schon nach verhältnismässig kurzer
Zeit neuen Bauten Platz machen
müssen, wo doch selbst unsre für
Jahrhunderte errichteten Monumen-
talbauten oft genug infolge der
rasch wachsenden Bedürfnisse
vorschnell veralten oder neuen Ver-
kehrsansprüchen weichen müssen?
Es bedarf für Fachkreise keiner
weiteren Ausführung darüber, wie-
viel Ersparnisse an direkten und
indirekten Baukosten durch die
Einführung einer sinngemässen
Unterscheidung zwischen den ver-
schiedenen Gebäudearten in un-
sern bau- und feuerpolizeilichen
Vorschriften ohne irgendwelche
Verschlechterung der Bauweise und
ohne jede Gefahr für den Einzelnen
wie für die Allgemeinheit erzielt
werden könnten.
Mit der Durchführung dieser
Massregel würden die erheblichsten
Hindernisse für den Bau kleinerer
Wohnhäuser in grossen Städten und für die Benutzung aller
durch die Fortschritte der Technik gebotenen Vorteile beseitigt
werden. Erfahrungsgemäss werden aber so durchgreifende
Aenderungen bestehender Vorschriften, die nicht zu verkennende
Schwierigkeiten bieten und die ganze Hingabe, hervorragende
Befähigung, _ vorurteilsfreie
Auffassung und eingehendste
Sachkenntnis erfordern, nicht
freiwillig von den betreffen-
den Behörden gewährt. Es
bedarf zu ihrer endlichen
Durchsetzung vielmehr des
nachhaltigen Drängens
und der freiwilligen Mit-
arbeit aller‘. beteiligten
Kreise.
Schon diese kurzen An-
deutungen lassen die soziale
Wichtigkeit einer zweckmässi-
gen Lösung der Wohnungs-
frage. im allgemeinen hin-
reichend erkennen. Ihr gegen-
überstehtdieschwerwiegende
Bedeutung, welche die mehr
oder minder glückliche und
preiswerte Gestaltung und
Ausführung seiner Wohnung
für den Besitzer hat. Je mehr
dessen Eigenart zur Geltung
kommt, desto mehr treten
Villa in München.
Perspektivische Ansicht.
Haus des Herrn Maler Kraef in Coblenz.
Architekt: Willy Bock in Coblenz.
Zu Tafel 4. —
AU
ww
7 SS
Architekt: O. Strelin in München,
anscheinend die allgemeinen Regeln vor der subjektiven Be-
handlung des einzelnen Falles zurück. Und doch gibt es auch
hier genug allgemeine Gesichtspunkte, deren Beachtung für
das Gelingen des Baues unerlässlich ist, wenn wir auch längst
nicht mehr in der glücklichen und bequemen Lage sind wie
unsre Vorfahren, deren Bedürfnisse durch den feststehenden
Typus ihres Hauses erfahrungsgemäss zweckmässig und vor-
teilhaft erfüllt wurden. Auch fehlt es unserm deutschen Mittel-
stande leider viel zu sehr an einer gewissen Tradition in der
Lebenshaltung und Wohnungseinrichtung, wie sie im eng-
lischen und französischen Familienleben besteht und zu ganz
bestimmten Wohnungs- und Haustypen geführt hat. Mag man
diesen Mangel auch auf der einen Seite als günstig für die
völlig freie individuelle Entwickelung begrüssen, im grossen
und ganzen bleibt es ein Mangel für alle diejenigen, denen
Kraft und Einsicht zu individueller Gestaltung fehlt. Ausser-
dem liegt in der Tradition auch eine gewisse Gewähr, dass
Erprobtes weitergebildet und Unzweckmässiges umgestaltet
oder fallen gelassen wird.
Suchen wir deshalb auch hier einige allgemeine Regeln
zu entwickeln, deren zweckmässige Anwendung natürlich nach
Lage des einzelnen Falles zu erwägen ist.
Je geringer die zur Verfügung stehende Bausumme und je
beschränkter demnach die Wahl der zur Erreichung des
Zweckes anwendbaren Mittel ist, desto schwieriger gestalten
sich die Aufgaben für den entwerfenden Architekten, wie für
den ausführenden Meister. Je kleiner ferner das Haus ist, je
intensiver jeder Raum ausgenützt werden muss, desto mehr
kommt es auf die sorgfältige Berücksichtigung aller Bedürf-
nisse der zukünftigen Bewohner und auf die möglichste Ver-