sellschaftsbild kennen, wenn ich etwas über das Stadt-
bild wissen wollte.
Die nächste Schwierigkeit in dieser Analyse entdeckte
ich darin, daß es viele Stadt- und Regionalplaner gibt,
die überhaupt kein klar erkennbares Gesellschaftsbild be-
sitzen, jedenfalls kein klar parteilich oder weltanschau-
lich definiertes, die aber dennoch nicht objektiv argu-
mentieren. Ich lernte allmählich die Zeichen entziffern,
die versteckte Hinweise auf gesellschaftliche Wertvor-
stellungen geben. Mir fiel auf, daß bestimmte, stereo-
typ wiederkehrende Argumentationen, wie z.B. die Ge-
Ffährlichkeit des Großstadtlebens, nicht isoliert betrach-
tet werden können, sondern genau besehen in einen wei-
teren ideengeschichtlichen Zusammenhang gebracht wer-
den mußten. Auf der Suche nach den Ahnvätern beson-
ders auffällig wertgeladener Großstadtkritiken fand ich,
daß die ehemaligen Konservativen die Paten von heute
sich schon wieder fortschrittlich gebenden Fachleuten
waren. Die Autoren des Buches "Die gegliederte und auf-
gelockerte Stadt" (Tübingen 1957, S. 17) berufen sich
z.B. unmittelbar auf Riehl, wenn sie die herkömmliche
Großstadt kritisieren; dabei ist Riehl selbst niemals ein
sachlicher Wissenschaftler gewesen, der sein Urteil durch
empirisches Wissen differenziert hätte, sondern eher ein
versierter Journalist, der empirisches Wissen ganz und gar
in den Dienst einer reaktionären Politik stellte, die sich
in wilden Attacken gegen die Sozialdemokratie ausließ.
Nachdem ich hellhörig geworden war, indem ich die Be-
ziehung bestimmter Argumentationsstereotype zu abge-
standenen politischen Parolen entdeckt hatte, las ich mit
geschärfter Aufmerksamkeit das Gartenstadtmodell von
Ebenezer Howard und fand, daß es voll politischer Paro-
len war, ja die Gartenstadt war gedacht als Befriedigungs-
programm für die Teile der Bevölkerung, die an die gründ-
liche Änderung unerträglicher gesellschaftlicher Zustände
dachten.
Was von Howards Idee übrig blieb, nachdem Raymond
Unwin die ersten zwei Gartenstädte gebaut hatte, waren
lediglich technische Arrangements; die politische Moti-
vation trat in den Hintergrund und wurde vergessen. Aber
seit dieser Zeit wurde der psychohygienische Wert von
"Grün" und Natur und entsprechender aufgelockerter
Bauweise festgehalten. Es ist dieses, von politisch kon-
servativ motivierten Ideen bestimmte Gesellschaftsbild,
das ich als organisch bezeichne. In diesem Wort ver-
schränken sich wichtige Elemente des konservativen
Denkens:
')
daß die Gesellschaft harmonisch ist
organisch ist Synonym für harmonisch)
2)
daß soziale Unterschiede in der Gesellschaft auf indivi-
duellen naturgegebenen Differenzen beruhen und nicht
auf sozialen Klassen- oder Schichtdifferenzen.
3)
daß die Änderung des bestehenden gesellschaftlichen Auf-
baues ein naturwidriges oder sinnloses Unterfangen ist.
4)
daß die Gesellschaft hierarchisch, d.h. nach dem Prin-
zip der Über- und Unterordnung gegliedert ist und die
Darstellung dieser Gliederung nach einem funktionalen,
harmonischen Schema erfolgen soll, in dem Status-Diffe-
renzen als harmonische Einheit erscheinen.
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Es wäre falsch, alle diese Charakteristika "organischer"
Gesellschaftsauffassung bei den organizistisch orientier-
ten Stadtplanern in unmittelbarer Form zu erwarten. Im
organischen" Gesellschaftsbild der Stadtplaner finden
sich vielmehr technische Metaphern für konservative In-
halte: Daß viele Stadtplaner solche Metaphern verwenden
heißt noch nicht, daß sie bewußt konservative Interessen
vertreten. Oft glauben sie - letzte Nachfahren des Libera
lismus - an den pluralistischen Charakter unserer Gesell-
schaft und würden sich von einer eindeutig konservativen
Interpretation distanzieren; aber der Gebrauch und die
Anwendung falscher Symbole für eine subjektiv fortschritt-
lich gemeinte Sache enthüllt die pluralistische Freizügig-
keit des Denkens als eine Hilflosigkeit angesichts der be-
rufs- und ausbildungsbedingten Schwierigkeit von Stadt-
planern, sich bei der Benennung gesellschaftlicher und
sozialer Tatbestände richtig auszudrücken.
Je nach Grad der Unmittelbarkeit gesellschaftlicher und
politischer Implikationen innerhalb des "organischen" Ge-
sellschaftsbildes habe ich einmal unterschieden nach "Ver-
teidigung herrschender Werte" und "technischen Modeller”
Zu den "Verteidigern herrschender Werte" zählen vor al-
lem parteilich und weltanschaulich Gebundene. Zu den
technizistischen Entwürfen einer falsch gesehenen "orga-
nischen" Gesellschaft habe ich vor allem Le Corbusier und
Frank Lloyd Wright, Neutra, gezählt. Wright gebraucht
das Wort organisch sehr häufig und stellt einen direkten
Bezug zwischen organizistischem Gesellschaftsbild und
"organischer" Architektur her.
Die Einstufung der Städtebaumodelle von Corbusier und
Wright in ein wesentlich konservatives Gesellschaftsbild
mag befremdend wirken, weil sich mit beiden Namen ge-
radezu revolutionärer architektonischer Fortschritt verbin-
det. Aber es erscheint mir notwendig, auf solche Diskre-
panz im Denken einer einzigen Person hinzuweisen; denn
darin drückt sich ein großes Dilemma der Verselbständigung
und Isolierung der einzelnen Fachrichtungen aus. Weder
Wright noch Corbusier waren fähig, ihre architektonisch
fortschrittlichen Ideen, die sie auch als sozial fortschritt-
liche Ideen verstanden wissen wollten, in einer ihrer Ab-
sicht entsprechenden Weise zu übersetzen. Beide konnten
nicht von ihrer Rolle als Architekten abstrahieren; infolge-
dessen fehlte ihnen die Distanz zur objektiven, kritischen
Betrachtung gesellschaftlicher Vorgänge.
Diese Gefahr besteht kaum im "bürokratischen" Gesell-
schaftsbild von Stadtplanern. Dieses entsteht am ehesten
bei Architekten, die unmittelbar mit stadt- und regional-
planerischen Behörden oder Verbänden zu tun haben. Die
eigene Stellung innerhalb einer Organisation verschafft
den notwendigen Bezugsrahmen für eine relativierende Hal;
tung gegenüber gesellschaftlichen Vorgängen. Innerhalb
des Aktionsbereiches großer Organisationen lernen die
Architekten vor allem eher, sich in Sprachstilen auszu-
drücken, die ihnen nicht unbedingt vom eigenen Fachstu-
dium her vermittelt wurden. Aber auch dieses Gesell-
schaftsbild hat noch konservative Schlagseiten und zwar,
wenn das berufsethische Ziel der guten Gestaltung hinter
sozialtechnischen und bürokratisch-manipulativen Erwä-
gungen zurücktritt. Die bürokratischen Organisationszie-
le stehen oft im konservativen Lager der "Verteidigung
herrschender Werte", fallen also zurück auf organisch
harmonische Vorstellungen von der Gesellschaft. Im Un-
terschied zu den "reinen Organikern" bedienen sich die
"bürokratisch" ausgerichteten Stadt- und Regionalplaner
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