Hans Finsterlin
Architektur ist plastische Form, in und an welcher sich
sym- und asymetrische Eigenwilligkeiten gegenseitig nicht
stören, sondern harmonisch ergänzen.
Als Bergformationen, Kristall- oder Mineralgebilde, Pflan-
zen und Blütenteile, Nieder- und Hochtierformen und Or-
gane oder ihre Ausschwitzungen.Im Menschen als geistge-
borene Materie gewordene "Architektur" - elementare
oder differenzierte Form von unergründlichen Bildekräf-
ten not- oder spielwendig gestaltet,
Jeder projezierte Um-Raum hat seinem Projektor adäquat
zu sein. Eine Radiolarienschale, ein Schneckenhaus (wenn
noch so kunstvoll, ein Wespennest, usw.) ist etwas anderes
als ein Haus für Götter und Menschen .Wer das vergisst,
baut nur mehr Immobilien.
Architektur ist Kunst und Kunst ist Ästhetik, Ästhetik ist
keine Mode und keine Weltanschauung, sondern Naturge-
setz des Lebensfähigen.Es gibt primitive und geistig hoch-
stehende Ästhetik .Es gibt. Augenweiden und Augenleiden.
Wollen wir weiterhin für die Hölle bauen oder für den
Himmel? Das ist die Frage!
Im Orient, in der Antike wie im Mittelalter wäre "For-
schung" in der Architektur deplaziert erschienen . -Man
baute nicht mit Grosshirnrinde ‚sondern mit Geist,
Architektur war Kunst,nicht Wissenschaft - war Geist,
nicht Intellekt.
Das technische Zeitalter wird, wenigstens im allgemeinen,
um den Umweg Über die wissenschaftliche Forschung, vor
allem in biologisch-technischer Hinsicht nicht herumkom-
men, wenn sie die lange Sackgasse endlich verlassen und
die grosse Strasse der Evolution der Form wieder erreichen
und weiterführen will.
Der Gedanke Frei Otto’%, eine biologische Forschungsab-
teilung in den TH s einzubauen, ist ein begrüssenswerter,
schöpferischer Schritt dazu. Solche, wenn auch vielleicht
langwährende Forschungsarbeit dürfte letzten Endes frei-
lich nur als "Anlasser" dienen, um das rudimentär gewor-
dene Organ der Intuition in den Erbmassen künftiger Ge-
nerationen wieder zu entwickeln.
Hermann Henselmann
Zu Frage 1:
Unter Architektur verstehe ich die räumliche Organi-
sation der Lebensweise der Menschen, Sie ist sowohl
passives als auch aktives Mittel der materiellen und
geistigen Kommunikation, Als Bestandteil der geistig-
kulturellen Kommunikation wirkt sie als "Zeichen" und
Medium der geistig und psychisch bestimmten Inhalte
der Individuen ebenso wie der Büragergemeinschaft,
Zu Frage 2:
Die sozialistische Gesellschaft erkennt den Prozeß der
Umgestaltung aller Lebensbereiche als einen bewußt
und planmäßig gesteuerten Gestaltungsakt an mit dem
Ziel der Herausbildung eines neuen Menschenbildes,
Diese Bewußtheit setzt Forschung auf allen Gebieten
voraus, auch eben auf dem Gebiet der räumlichen Or-
ganisation dieser erneuerten und veränderten Lebenswei-
se, Das zielt nicht nur auf die Integration der Bauwissen-
schaften, sondern auch der Naturwissenschaften und Ge-
sellschaftswissenschaften im weiten Verstand ab, Selbst-
verständlich ist hier auch die Mathematik und die Ky-
bernetik einbegriffen, indem die Stadt als ein dynami-
sches und selbstregulierendes System aufgefaßt wird,
das Störungen im weitesten Sinne nicht vermeidet, son-
dern verarbeitet. Der Grad der Kompliziertheit eines
solchen Systems besteht aus dem Netz seiner möglichen
Beziehungen und jedes System ist kompliziert und zu-
gleich komplex. Diese Bedingtheit zwischen Kompli-
ziertheit und Komplexität kann abstrahiert, verallge-
meinert und durch mathematisch-kybernetische Modell -
belegung dem Vermögen des Menschen entsprechend
übersichtlich gestaltet werden.
Es geht also auch um die Modellierung dieser Systeme
und das gerade setzt Forschung voraus, um alle Teil-
systeme, die sich in dem räumlichen Gesamtsystem ver-
einigen, deutlich zu konturieren und auch mit dem Ge-
samtsystem zu verbinden.
Ebenso ist die Untersuchung der semantischen Mittel
notwendig, welche die Architektur besitzt, um ihren
Gestaltungen, dort wo es notwendig ist, ikonographi-
sche Bedeutung zu geben. Auch das ist ein noch unbe-
ackertes Feld,
Im ganzen gibt es eine Wissenschaft der Architektur
noch nicht. Sie beginnt sich, soweit ich es übersehen
ARCH + 1(1968)H1