VISUELLES PROJEKT 2
Georg Nees
Der Ort der generativen Graphik innerhalb der Informa-
tionsästhetik
Eine Einführung in den Gegenstand der generativen Gra-
phik kann nicht besser begonnen werden als mit der
Definition der generativen Ästhetik, wie sie Max Bense
im rot-Bändchen 19 (1) folgendermaßen formuliert: "Unter
generativer Ästhetik ist die Zusammenfassung aller Ope-
rationen, Regeln und Theoreme zu verstehen, durch deren
Anwendung auf eine Menge materialer Elemente, die als
Zeichen fungieren können, in dieser ästhetische Zustände
(Verteilungen bzw. Gestaltungen) bewußt und metho-
disch erzeugbar sind". Betrachtet man die generative
Ästhetik als ein Teilgebiet der Informationsästhetik, die
sich in jeder notwendigen Weise mit dem ästhetischen
Aspekt von Information, d.h. von Zeichensystemen be-
schäftigt, so ist das spezielle Ziel der generativen Ästhe-
tik das Studium der operativen Herstellung von Zeichen-
systemen (über einem Arsenal von Zeichen), die als
ästhetische perzipierbar sind. Anders ausgedrückt: Gene-
rative Ästhetik widmet sich der regularisierten Genese
und der wissenschaftlichen Reflexion auf solche Genese
von ästhetischer Information. Dadurch, daß ihr Gegen-
stand besondere ästhetische Information, nämlich gra-
phische Information ist, sondert sich nun die generative
Graphik aus der allgemeinen generativen Ästhetik aus.
Unter Graphik verstehen wir ganz im klassischen Sinn
die flächige Darstellung von Zeichensystemen vornehm-
lich in Schwarz-Weiß, wobei die Zeichen mit einer ge-
wissen Diskretisation auf die Fläche gebracht werden.
Die von der Graphik dargebotenen Zeichenverteilungen
betrachten wir als graphische Information. Fälle von
graphischer Information sind die Bilder, die zu unserer
Untersuchung gehören.
In der Aesthetica (2) wird die Vorgehensweise der gene-
rativen Ästhetik geschildert: "Das effektive Ziel des
Systems generativer Ästhetik besteht darin, die Charak-
teristiken ästhetischer Strukturen, die in einer Menge
Computer-Grafik, herausgegeben von M. Bense und
E. Walther; rot-19, Stuttgart 1965
Max Bense: Aesthetica, Agis-Verlag, Baden-Baden
1965: S. 334
materialer Elemente realisierbar sind, numerisch und
operationell so zu beschreiben, daß sie als abstrakte
Schemata eines "Prinzips Gestaltung", eines "Prin-
zips Verteilung" und eines "Prinzips Zusammenhang"
gelten können und manipulierbar einer materialen, un-
gegliederten ("verdampften") Menge von Elementen
aufgedrückt werden können, um gemäß diesen "Prin-
zipien" das hervorzurufen, was wir als "Ordnungen"
und "Komplexität" makroästhetisch und als "Redundan-
zen" und "Information" mikroästhetisch am Kunstwerk
wahrnehmen. Das Aufdrücken ist indessen nicht als "
Anwendung einer Schablone zu verstehen, sondern als
Erzeugungsprinzip. Auch "Programme" in bestimmten
"Programmiersprachen" zur "maschinellen" Realisation
"freier" (stochastischer, intuitiver) oder "gebundener"
(im voraus festgelegter, deduzierter) ästhetischer Struk-
turen gehören zum System generativer Ästhetik und
ihren Projekten, sofern sie metrische (Abstände, Wort-
\ängen), statistische (Wortfolgen, Positionierungen) und
topologische (Verbindungen, Deformationen) Bestimmun-
gen einkalkulieren, um "ästhetische Information" zu
erzeugen." Wir halten im Zitieren dieses gründlegenden
Textes ein, um schon hier Konsequenzen für die Aus-
führung des "Projekts generativer Graphik" aufzuweisen.
Sofern wir versuchen, graphische Information im metho-
dologischen Rahmen der generativen Ästhetik sowohl zu
produzieren als auch zu begreifen, muß graphische In-
Formation prinzipiell verstehbar sein als bestimmt durch
Gestaltung, Verteilung und Zusammenhang. Für jede
einzelne Graphik sind daher diese drei Prinzipien zu
verknüpfen mit drei Merkmalen "Gestaltung", "Ver-
teilung", "Zusammenhang", die jedoch in keiner Weise
begriffsrealistisch als die der Graphik vorgeordneten
Ideen aufgefaßt werden dürfen, vielmehr handfest die
materielle Herstellung der betreffenden Graphik zu
überwachen haben. Das kann nur bedeuten, daß schon
die Vorschrift, nach der die Graphik produziert werden
soll, auf Gestaltung, Verteilung und Zusammenhang
hinarbeiten muß. Diese Produktionsvorschrift für die
Graphik ist nichts anderes als das von Bense erwähnte
Erzeugungsprinzip der Graphik: ihr Programm. Nun kann
man sich die Entstehungsgeschichte jeder Graphik min-
destens im nachhinein als nach einem wohldefinierten
Programm abgelaufen vorstellen, da auch im handwerk-
lichen Vollzug Richtung und Gliederung zu erkennen
und Etappen zu unterscheiden sind. Im Rahmen generati-
ver Graphik jedoch ist das Programm mit seiner Struktur
die erste und bewußt konstituierte Komponente des ästhe-
tischen Erzeugungsprozesses derart, daß von der Struktur
der erzeugten Graphik jederzeit auf die dokumentierte
Struktur des erzeugenden Programms zurückgefragt werden
kann. Dabei ist die generative Graphik in der glückli-
chen Lage, in der sich die Astronomie erst nach der Er-
Findung des Teleskops befand. Sie kann nämlich die Pro-
gramme, die sie erstellt, von den als Computern oder
Datenverarbeitungsanlagen bezeichneten Maschinen aus-
werten lassen. Man hat den Computer als Komplexitäts-
Fernrohr bezeichnet, weil er vorher unzugängliche Kom-
plexität überhaupt erst auflösbar, dann allerdings sogar
manipulierbar macht. Die Programme, als Erzeugungs-
prinzipien von graphischer Information, müssen in nor-
mierten Sprachen geschrieben sein, um von Datenverar-
beitungsanlagen verstanden werden zu können.
Wir schließen die Übersicht mit einigen zusammenfassen-
den "Thesen" ab:
ARCH+ 2 (1969) H.7