Jan van der Meulen
ARCHITEKTUR
Baukunst und Baugeschichte
Die Vermehrung des Wissens und der Ausbau der wissen-
schaftlichen Hilfsmittel haben zuerst diejenigen Fächer in
eine Krise geführt, deren Anspruch auf Universalität seit
langem schon eine Verflachung ihrer Disziplinen verursachte.
Das Maß an praktischer Ausrichtung, das dem Ausbildungs-
wesen auf dem Gebiet der Architektur geblieben ist, hat
es dagegen erlaubt, daß dieser Umstand eher von der
Architektur als von der Baugeschichte erkannt worden ist.
Während das Architekturstudium sich so sehr wissenschafts-
fremd etabliert hat, daß in Fachkreisen die Frage ernsthaft
gestellt werden kann, ob Forschung überhaupt notwendig
sei, widersetzt sich allerdings die Kunstgeschichte - lies
Baugeschichte - einer Neuordnung des Studiums, eben weil
bei ihr die enge Verbindung von Forschung und Lehre vom
Beginn des Studiums an immer gegeben sein mußte. Aus
diesem Gegensatz heraus sollte es einer reformwilligen
Generation deutlich sein, daß beide Fächer sich viel zu
sagen haben. Aber statt einen konstruktiven Dialog zu
führen, sieht die Baugeschichte bisweilen schweigend zu,
wie sie als Fach ausaeschaltet werden soll.
Technische Hochschule und Universität
Schon die Worte unseres Themas "Baukunst" und "Bauge-
schichte" beinhalten die einfachen Grundvoraussetzungen
der jeweiligen Bildungsstruktur Kunst gegenüber
Geschichte; das heißt subjektives Können gegenüber
objektiver Geschichtswissenschaft (Dichtung gegenüber
Wahrheit); die Kunstakademie gegenüber der philosophischen
Fakultät; oder - wegen des Bauens noch näher präzisiert -
die Technische Hochschule gegenüber der Universität.
Es bedarf von beiden Seiten, sowohl von der Architektur
wie von der Baugeschichte, einer aufrichtigen Klärung
der Disziplinstrukturen - die bloße Terminologisierung der
Frage, z.B. die Umbenennung der Technischen Hochschule
in Universität im Falle Stuttgarts, hat bisher zu keinem
Dialog geführt.
Beide Fächer sind bereits in ihrer historischen Entwicklung
derart befangen, daß auch diese kurz angeschnitten werden
muß.
Bevor die Baugeschichte hier das Gespräch eröffnen darf,
muß sie ihre Berechtigung als Disziplin nachweisen. Die
Baugeschichte ist primär eine objektive historische Diszi-
olin. Als solche ist sie von der Kunstgeschichte grundsätz-
lich nicht zu unterscheiden. Sie müssen beide gemeinsam,
strengstens als systematische Wissenschaften erkannt, der
subjektiven praktisch-schöpferischen Tätigkeit der Künste
entgegengesetzt werden. Die mit den Künsten gemeinsame
kunstkritische Analyse kann nur dann einsetzen, wenn das
historische Wesen des Kunstwerks nachgewiesen worden
ist (in bezug auf die Baugeschichte bildet das gemeinsame
Feld die Architekturtheorie, siehe unten). Vor allem im
Rahmen der praktisch-künstlerischen Architektenausbildung
«ann diese entgegengesetzte, rein wissenschaftliche Quali-
fikation der Baugeschichtslehre nicht zu stark betont wer-
den. Es ist aber gerade die Bildungsstruktur der Technischen
Hochschulen, die diese Voraussetzung im allgemeinen nicht
berücksichtigt: dort wird die Baugeschichte beinahe aus-
schließlich von Baukünstlern getragen. Das heißt, lediglich
wegen des sekundären "technischen" Zusammenhangs mit
dem "Bauen" wird in der Bildungsstruktur auf die Grundlage
der ordentlichen philosophischen Disziplinen verzichtet.
Die zunächst als praktische Hilfswissenschaft von Dörpfeld
bis v. Gerkan entwickelte Ausgrabungswissenschaft, die
sich auf dem überschaubaren Feld der klassischen Archäo-
logie rasch zu hohem Ansehen emporarbeiten konnte, bleibt
von dieser Feststellung unberührt.
Wir sehen also, daß trotz der klaren Voraussetzungen der
Baugeschichtswissenschaft es eine gewisse Unvereinbarkeit
zwischen Bildungsstruktur und Aufgabe an den Fakultäten
für Bauwesen gibt. Wenn gerade in Deutschland der her-
kömmliche Kern des Berufsbildes "Architekt" zu einer Zeit
in Frage gestellt wird, in der die Architektur teilweise in
die "Universität" aufgenommen wird, dann geschieht dies,
weil der Beruf hier noch nie einer Disziplin im Sinne der
Universität unterworfen werden konnte. (Es ist bezeichnend,
daß, während der schwer faßbare herkömmliche Berufskern
nach wie vor von dem einzelnen "Architekten" bewältigt
werden sollte, die neu hinzukommenden technischen Er-
rungenschaften jeweils Spezialberufe ausbildeten, z.B.
Akustiker, Klimatechniker u.a.) Die Erwerbskünste, zu
denen wir bis heute die Architektur zählen müssen, bildeten
seit der Antike einen Gegenbegriff zu den artes liberales,
die noch an der mittelalterlichen Universität die philoso-
phische Vorstufe der "höheren Fakultäten" darstellte und
im Gesamtrahmen des studium generale nach wie vor den
Gegenbegriff zum studium particulare, dem wissenschaftlich
subalternen Studium, bildete. Ob die damals auftretenden
großen Baumeister (wie Villard d’ Honnecourt oder Hugues
ARCH +2 (1969) H.5