Roland Günter
BERUFSBEZOGENE BAUGESCHICHTE
1. Man muß sich vor Augen führen, daß die Gesellschaft
des 19. Jahrhunderts auf weite Strecken nicht auf den
hochqualifiziert Ausgebildeten angewiesen war, schon gar
nicht auf eine große Zahl von ihnen. Das Studium hatte
daher in vielen Fächern den Charakter eines "edlen" Luxus
oder eines freien Hobbys. Nun hat aber die Gesellschaft
die Tendenz, ständig in ähnlicher Weise wie die wirt-
schaftliche auch die intellektuelle Kapazität zu erweitern.
Diese Entwicklung fordert eine immer größere Zahl quali-
fiziert Ausgebildeter. Außerdem ist nur noch die Gesamt-
gesellschaft in der Lage, die immens gestiegenen finanziel-
len Aufwendungen für leistungsfähige Bildungseinrichtungen
zu tragen. Sie hat demnach auch das Recht, sich zu über-
legen, ob sie Hobbies oder Idylle finanzieren will oder ihre
eigene Entwicklung.
IL. Zur Stoffwahl und Methodik der Analyse
1. Es sollen Planer verschiedener Spezialrichtungen aus-
gebildet werden und keine Miniatur-Kunsthistoriker. Daher
erscheint es mir nicht sinnvoll, die Lehre als historischen
Selbstzweck zu betreiben, sondern als berufsbezogene
Baugeschichte.
Dies läßt sich auch vom Fach Baugeschichte her rechtferti-
gen. Denn dadurch wird die "Formalisierung des Einzel-
fachs" aufgehoben, das "sich selbst überlassen, fast unver-
meidlich nur von der dinglichen Gewalt seiner Gegenstände
geleitet" wird. Es kommen nun die "übergreifenden Fragen"
wieder ins Spiel und damit das "Bewußtsein von der allge-
meinen Bedeutung des eigenen Tuns, ja von der gesell-
schaftlichen Relevanz der Wissenschaft überhaupt" (W.
Hofmann, Universität, Ideologie und Gesellschaft.
Frankfurt 1968, 15).
2. Welche Wertigkeit besitzt nun das Fach Baugeschichte
in der Ausbildung des Planers?
Als Randfach muß es natürlich hinter wichtigeren Fächern
zurücktreten. Denn die Auseinandersetzung mit den heuti-
gen Baufragen steht für den Studenten im Vordergrund. Die
Begegnung mit der Geschichte ist nur lehrreich und zündend,
wenn sie solche Methoden an der Vergangenheit schult,
die auch für die gegenwärtige Arbeit fruchtbar sind.
SC
3. Mehr und mehr wird gefordert, das Fach Baugeschichte
im weitest möglichen Sinn unter soziologischem Gesichts-
punkt zu sehen. Dies integriert die Baugeschichte stärker
als bisher in die Ausbildung der Planer.
Auch vom Fach aus gesehen stellt der soziologische Ge-
sichtspunkt eine begrüßenswerte methodische Erweiterung
dar. Denn die ältere Baugeschichte sah im wesentlichen
das Bauwerk als isoliertes Gebilde. Die Frage, ob man in
ihm eine von sozialen, wirtschaftlichen und anderen Kräf-
ten hervorgebrachte Form sehen kann, wurde in der Regel
durch einen Wissenschaftsbegriff unterbunden, der dagegen
voreingenommen war. "Die Auffassung Burckhardts, daß das
Kunstwerk als reales Objekt die Geistform seiner Zeit und
Gesellschaft ausdrücke, verfestigte sich nie zu einem Be-
griffsapparat, mit dessen Hilfe man die einzelnen realen
Objekte wirklich analysieren konnte" (G. Paulsson,
Die soziale Dimension der Kunst. Bern 1955, 12). Unter
dem Einfluß Kants entwickelte sich die individual-psycho-
logische Betrachtungsweise und als Gegenreaktion und
Kritik an deren irrationalen Zügen die archivarische, die
aber ebenso eng bleibt.
Wie neu die soziologische Ausrichtung der Baugeschichte
ist, zeigt die Tatsache, daß es nahezu keine Literatur
unter diesem Gesichtspunkt gibt.
4. An Beispielen erweist sich, daß das Baugeschehen ein
Indikator, eine Form der Selbstdarstellung der Gesellschaft
ist, in der sie ihre vielfältigen Kräfte, wirtschaftliche,
soziale, politische und andere sichtbar macht. Und zwar
besteht zwischen baulicher und gesellschaftlicher Gestalt
ein Verhältnis der Ebenbildlichkeit mit starker Wechsel-
wirkung. Die Untersuchung teilt sich auf in:
a) Analyse des gesellschaftlichen Bildes anhand historischer
Beispiele. Wirtschaftliche Lage - Auftraggeber - Träger -
Benutzer - Öffentlichkeit - Architekt - Bautechnik - Ziel-
vorstellungen usw. Der Student gewinnt dadurch auch an
historischen Modellen Methoden, Aufgaben von bestimm-
ten Gesichtspunkten aus realistisch zu durchschauen.
b) Wie wird aus einer Aufgabe eine Form? Wie sieht der
Prozeß aus, in dem aus einer gegebenen Situation mit
vielen Kräften eine Gestaltbildung erfolgt? Dies soll nach-
vollzogen und ablesbar gemacht werden.
ARCH +2 (1969) H.5