Prof. Dr. Otto Walter Haseloff
WIE WERDEN WIR WOHNEN ?
Es ist schwierig und reizvoll, konkrete Probleme einer Pro-
gnose von Mensch und Gesellschaft zu behandeln, die sich
im Übergang zum dritten Jahrtausend befinden. Schwierig
ist diese Aufgabe besonders für denjenigen, der sich mit
der Methodik und der Erstellung von prognostischen Pla-
nungs- und Entscheidungshilfen beruflich zu beschäftigen
hat.
Zweifellos wäre es für den Sozialpsychologen reizvoll, die
Stadt der Zukunft voraus zu entwerfen und eine skeptische
oder ermutigende Vision des menschlichen Zusammenlebens
und Wohnens in ihr zu konzipieren. Eine solche Voraus-
schau könnte nur auf eine Prognose der gesamtgesellschaft-
lichen Struktur aufbauen. Diese ist jedoch mit großen
Risiken und mit erheblichen methodischen Problemen be-
lastet.
Internationale Macht- und Wirtschaftskonkurrenz formen
die gesamtgesellschaftliche Struktur ebenso wie unter-
schiedliche staatliche Interventionen in die Dynamik der
einzelnen Volkswirtschaft. In hohem Maße aber hängt die
gesellschaftliche Gesamtstruktur auch von der institutio-
nellen Gestaltung von Volksbildung und Forschung sowie
von den Entwicklungen in den Bereichen der Sozialpolitik
und der Innenpolitik ab.
Hinzu kommt die Vielzahl wirtschaftlicher und technolo-
gischer Innovationen, die zwar richtungsmäßig vorausge-
sehen werden können, deren Rückwirkungen auf empfind-
liche politische Gleichgewichtslagen jedoch langfristig
kaum verläßlich einzuschätzen sind. Und last not least
kommt hinzu, daß sich die Zukunft unserer Gesellschaft
als unbeabsichtigtes Endresultat zahlloser Entscheidungen
sehr vieler Menschen konstituiert.
Dabei sind die Ereignisfolgen der Entscheidungen, die
jeder einzelne im Zielhorizont seines Daseins trifft, an
und für sich betrachtet minimal. Dennoch vereinen sie
sich zu Impulskumulationen und schaffen latente Spannungs-
gefüge und Auswirkungsmechanismen, die nachfolgende
Ereignisse und Konstellationen zum Auslöser weitreichender
und nachwirkender Konsequenzen machen und die dern
Gestaltungsspielraum der gesellschaftlichen Gesamtent-
wicklung eingrenzen und kanalisieren.
So erweist sich auch und gerade die moderne Gesellschaft
als ein sozial mehr oder weniger geregeltes und institutio-
nalisiertes Gleichgewichtssystem vieler, scheinbar zufälliger
Einzelentscheidungen .
Hinzu kommen weiter die Aktivitäten und Bestrebungen
jener Gruppen, die durch gemeinsame Mentalität und
Ideologie so homogen sind, daß sie bestimmten Zielwerten
eine strukturformende Wirksamkeit vermitteln. Und weiter
ist an jene Gruppen und Personen zu denken, die genug
Macht haben, um beispielsweise im Bereich der Stadtpla-
nung folgenschwere Entscheidungen zu treffen oder zumindest
Druck auf die Kommandozentren der Gesellschaft auszu-
üben. All dies schafft ein so kompliziertes und so offenes
Wechselwirkungssystem, daß wissenschaftliche Zukunfts-
forschung nur eine Reihe von alternativen Möglichkeiten
aufzeigen kann. Dies alles bedeutet, daß auch die Stadt
der Zukunft und das Bauen, Wohnen und Leben ihrer
Menschen nur in Alternativen prognostiziert und vorge-
olant werden kann.
Der Prognostiker vermag hier allerdings unterschiedliche
Wahrscheinlichkeitsgrade zu ermitteln, was natürlich nicht
hindert, daß sich gegebenenfalls auch der unwahrschein-
liche Fall realisiert. Gerade der Prognostiker hat daran
zu erinnern, daß Erfahrungswissenschaft niemals Gewiß-
heiten zu bieten vermag, sondern bestenfalls bezifferbare
Wahrscheinlichkeiten. Gerade dadurch aber kann Erfah-
rungswissenschaft uns helfen, unsere beste Setzung gegen-
über der Ungewißheit und dem Wagnis der Zukunft zu
machen und auf jene Mittel und Chancen hinzuweisen,
die für die Realisierung positiver Prognosen wirksam ge-
macht werden können.
Die moderne Gesellschaft, in der wir leben, ist in allen
ihren Bereichen von den Folgen eines Wandlungsprozesses
geprägt, der seiner Raschheit und seiner tiefgreifenden
Auswirkungen wegen zutreffend als "zweite industrielle
Revolution" gekennzeichnet wird. Obwohl die Mehrzahl
der Menschen in unserem Lande sich kaum der Beschleu-
nigung der technologischen und sozial-kulturellen
Gesamtentwicklung der modernen Gesellschaft und der
vielfältigen aus ihr sich ergebenden Konsequenzen für
das Verhalten und Zusammenleben bewußt ist, wird dennoch
jeder Einzelne zumindest in Teilbereichen seines Lebens
mit ihren Folgen unmittelbar konfrontiert.
Dabei beeinflussen bereits die Erwartungen gegenüber der
Zukunft in erheblichem Grade Zeitordnung und Richtung
der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung. Sowohl die
ARCH + 2 (1969) H.5