Full text: ARCH+ : Studienhefte für architekturbezogene Umweltforschung und -planung (1969, Jg. 2, H. 5-8)

Prof. Dr. Otto Walter Haseloff 
WIE WERDEN WIR WOHNEN ? 
Es ist schwierig und reizvoll, konkrete Probleme einer Pro- 
gnose von Mensch und Gesellschaft zu behandeln, die sich 
im Übergang zum dritten Jahrtausend befinden. Schwierig 
ist diese Aufgabe besonders für denjenigen, der sich mit 
der Methodik und der Erstellung von prognostischen Pla- 
nungs- und Entscheidungshilfen beruflich zu beschäftigen 
hat. 
Zweifellos wäre es für den Sozialpsychologen reizvoll, die 
Stadt der Zukunft voraus zu entwerfen und eine skeptische 
oder ermutigende Vision des menschlichen Zusammenlebens 
und Wohnens in ihr zu konzipieren. Eine solche Voraus- 
schau könnte nur auf eine Prognose der gesamtgesellschaft- 
lichen Struktur aufbauen. Diese ist jedoch mit großen 
Risiken und mit erheblichen methodischen Problemen be- 
lastet. 
Internationale Macht- und Wirtschaftskonkurrenz formen 
die gesamtgesellschaftliche Struktur ebenso wie unter- 
schiedliche staatliche Interventionen in die Dynamik der 
einzelnen Volkswirtschaft. In hohem Maße aber hängt die 
gesellschaftliche Gesamtstruktur auch von der institutio- 
nellen Gestaltung von Volksbildung und Forschung sowie 
von den Entwicklungen in den Bereichen der Sozialpolitik 
und der Innenpolitik ab. 
Hinzu kommt die Vielzahl wirtschaftlicher und technolo- 
gischer Innovationen, die zwar richtungsmäßig vorausge- 
sehen werden können, deren Rückwirkungen auf empfind- 
liche politische Gleichgewichtslagen jedoch langfristig 
kaum verläßlich einzuschätzen sind. Und last not least 
kommt hinzu, daß sich die Zukunft unserer Gesellschaft 
als unbeabsichtigtes Endresultat zahlloser Entscheidungen 
sehr vieler Menschen konstituiert. 
Dabei sind die Ereignisfolgen der Entscheidungen, die 
jeder einzelne im Zielhorizont seines Daseins trifft, an 
und für sich betrachtet minimal. Dennoch vereinen sie 
sich zu Impulskumulationen und schaffen latente Spannungs- 
gefüge und Auswirkungsmechanismen, die nachfolgende 
Ereignisse und Konstellationen zum Auslöser weitreichender 
und nachwirkender Konsequenzen machen und die dern 
Gestaltungsspielraum der gesellschaftlichen Gesamtent- 
wicklung eingrenzen und kanalisieren. 
So erweist sich auch und gerade die moderne Gesellschaft 
als ein sozial mehr oder weniger geregeltes und institutio- 
nalisiertes Gleichgewichtssystem vieler, scheinbar zufälliger 
Einzelentscheidungen . 
Hinzu kommen weiter die Aktivitäten und Bestrebungen 
jener Gruppen, die durch gemeinsame Mentalität und 
Ideologie so homogen sind, daß sie bestimmten Zielwerten 
eine strukturformende Wirksamkeit vermitteln. Und weiter 
ist an jene Gruppen und Personen zu denken, die genug 
Macht haben, um beispielsweise im Bereich der Stadtpla- 
nung folgenschwere Entscheidungen zu treffen oder zumindest 
Druck auf die Kommandozentren der Gesellschaft auszu- 
üben. All dies schafft ein so kompliziertes und so offenes 
Wechselwirkungssystem, daß wissenschaftliche Zukunfts- 
forschung nur eine Reihe von alternativen Möglichkeiten 
aufzeigen kann. Dies alles bedeutet, daß auch die Stadt 
der Zukunft und das Bauen, Wohnen und Leben ihrer 
Menschen nur in Alternativen prognostiziert und vorge- 
olant werden kann. 
Der Prognostiker vermag hier allerdings unterschiedliche 
Wahrscheinlichkeitsgrade zu ermitteln, was natürlich nicht 
hindert, daß sich gegebenenfalls auch der unwahrschein- 
liche Fall realisiert. Gerade der Prognostiker hat daran 
zu erinnern, daß Erfahrungswissenschaft niemals Gewiß- 
heiten zu bieten vermag, sondern bestenfalls bezifferbare 
Wahrscheinlichkeiten. Gerade dadurch aber kann Erfah- 
rungswissenschaft uns helfen, unsere beste Setzung gegen- 
über der Ungewißheit und dem Wagnis der Zukunft zu 
machen und auf jene Mittel und Chancen hinzuweisen, 
die für die Realisierung positiver Prognosen wirksam ge- 
macht werden können. 
Die moderne Gesellschaft, in der wir leben, ist in allen 
ihren Bereichen von den Folgen eines Wandlungsprozesses 
geprägt, der seiner Raschheit und seiner tiefgreifenden 
Auswirkungen wegen zutreffend als "zweite industrielle 
Revolution" gekennzeichnet wird. Obwohl die Mehrzahl 
der Menschen in unserem Lande sich kaum der Beschleu- 
nigung der technologischen und sozial-kulturellen 
Gesamtentwicklung der modernen Gesellschaft und der 
vielfältigen aus ihr sich ergebenden Konsequenzen für 
das Verhalten und Zusammenleben bewußt ist, wird dennoch 
jeder Einzelne zumindest in Teilbereichen seines Lebens 
mit ihren Folgen unmittelbar konfrontiert. 
Dabei beeinflussen bereits die Erwartungen gegenüber der 
Zukunft in erheblichem Grade Zeitordnung und Richtung 
der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung. Sowohl die 
ARCH + 2 (1969) H.5
	        
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