Full text: ARCH+ : Studienhefte für architekturbezogene Umweltforschung und -planung (1969, Jg. 2, H. 5-8)

positiv-zukunftsaufgeschlossene Einstellung als auch die 
innerliche Zurückweisung aller Herausforderungen durch 
die Zukunft schaffen soziale Mechanismen der sich selbst 
erfüllenden Prognose. 
Öffentliche und private Erwartungen an eine nahe oder 
fernere Zukunft in Gestalt von Hoffnungen oder Befürch- 
tungen, von Zielbildungen oder Planungen steuern bereits 
heute und hier Verhalten und Entscheidung und formen 
in unzählbaren Einzelschritten jene soziokulturellen Kon- 
stellationen, die dann als Chancen oder als Hindernisse 
für die Realisierung technischer und sozialer Entwicklungen 
wirksam werden. Dies gilt vor allem für die gefühlsmäßigen 
oder bewußten Antworten, die sich der einzelne oder ganze 
Gruppen auf die Frage geben, ob die private oder die ge- 
meinsame Zukunft sinnvoll vorbereitet werden kann, oder 
ob sie sich dem planenden und gestaltenden Zugriff ent- 
zieht. 
Ein Beispiel für solche Mechanismen bietet etwa die 
Volksbildung in Deutschland: Wir brauchen nur daran zu 
denken, daß sich Schüler, die heute in die Grundschule 
eintreten, 1985 am Ende ihrer beruflichen Ausbildung und 
im Jahre 2000 in ihrer vollen menschlichen und sozialen 
Entfaltung befinden werden. Dennoch machen unsere 
erziehenden Institutionen kaum je konkrete und wissen- 
schaftlich begründbare Versuche, sich diese Welt zwischen 
1985 und 2000 auch nur einigermaßen präzise zu vergegen- 
wärtigen, um sie den Heranwachsenden vorstellbar zu 
machen. 
Selbst in den gegenwärtig diskutierten Bildungsplänen 
fehlt jede systematische und ernsthafte Auseinandersetzung 
mit der Zukunft. Charakteristisches Beispiel hierfür sind 
die gegenwärtig in Gebrauch befindlichen Lesebücher 
oder die Schulbücher für die sogenannte "Gemeinschafts- 
kunde". Sie bieten dem Heranwachsenden noch immer ein 
romantisch idealisierendes Bild einer ständisch organisier- 
ten Agrargesellschaft an oder entwerfen in schöner Ein- 
mütigkeit ein verpflichtendes Muster der weiblichen Rolle 
in der Gesellschaft, das ein Leitbild weiblichen Daseins 
reproduzieren soll, wie es schon 1880 nicht mehr unbe- 
stritten hingenommen wurde. Hier begegnen wir dem 
Versuch wohlmeinender aber ratloser Menschen die Ver- 
gangenheit zur Zukunft zu machen. 
Aber nur eine Erziehung, die schon heute ihre Ziele und 
Gehalte auch an den erwartbaren sozialen, kulturellen, 
technischen und geistigen Bedingungen der Zukunftsge- 
sellschaft orientiert, kann für die Heranwachsenden motiv- 
bildend und in wirksamer Weise lebensvorbereitend wirken. 
Bildungsinstitutionen aber, die sich in ihrer Selbstdeutung 
und in ihrer selbstgewählten Aufgabe von den Möglichkei- 
ten und Aufgaben der modernen Gesellschaft isolieren, 
schaffen Mechanismen der sich selbst erfüllenden negativen 
und regressiven Prognosen. 
Gleich wichtig ist es für uns alle, daß auch die Menschen, 
die heute zwischen 30 und 40 Jahre alt sind, noch an 
technologischen und sozial-kulturellen Umwälzungen 
teilhaben werden, die die erste industrielle Revolution 
nach Tiefgang und Reichweite sehr wahrscheinlich noch 
übertreffen. 
Dennoch verfügt unsere Gesellschaft bisher kaum über 
Institutionen und organisierte geistige Potenzen, die sich 
sinnvoll und verantwortlich mit den Chancen der modernen 
industriellen Großgesellschaft auseinandersetzen. Die 
sachgerechte Sammlung, Analyse, Dokumentation und 
Aufbereitung der Ergebnisse der Zukunftsforschung stellt 
deshalb eine außerordentlich wichtige Aufgabe dar. Ein 
möglichst breiter Menschenkreis sollte seriöse, auf wis- 
senschaftlichen Strukturanalysen beruhende Prognosen der 
Entwicklung von Mensch und Gesellschaft kennen und sie 
zu unterscheiden lernen von den Ausdrucksformen eines 
realitätsflüchtigen Wunschdenkens ebenso wie von den 
sensationsbetonten Schreckbildern jener technischen Uto- 
pien, die sich mit antidemokratischen Menschenbildern 
und autoritären Gesellschaftskonzeptionen verbinden. 
Mustert man die gegenwärtig zugänglichen Einzelvorher- 
sagen und gesamtgesellschaftlichen Prognosen durch, so 
zeigt sich, daß technologisch zentrierte Zukunftsvisionen 
von der sich immer mehr erweiternden "Machbarkeit" der 
Welt fasziniert sind, daß sie gleichzeitig aber fast durch- 
gehend keinerlei Berücksichtigung der Methoden und Er- 
kenntnisse der modernen Verhaltensforschung und der 
Sozialpsychologie erkennen lassen 
Hier dürfte sich die Tatsache auswirken, daß viele dieser 
Schriften optimistische oder drohende Visionen entwerfen, 
die in ihren Aussagefunktionen und in ihren letzten Zielen 
weniger auf Erkenntnis gerichtet als normativ und politisch 
intentioniert sind. Dabei werden oft keineswegs notwendige 
Informationslücken durch persönliche Wertsetzungen und 
Geschmacksurteile geschlossen. So wird die Auseinander- 
setzung mit der Weltdimension der Zukunft immer wieder 
durch Bezugssysteme geformt, die ungeprüfte psychologische 
soziologische und politische Voraussetzungen verabsolutie- 
ren und zurückliegende private Lebenserfahrungen in 
gesamtgesellschaftliche Prognostik umsetzen. 
Diese Einsicht drängt sich bei der Diskussion inhaltlicher 
Aussagen über Wandlungen des menschlichen Verhaltens 
und über künftig erwartbare Formen des Zusammenlebens 
auf. Dabei begegnet man einer Vielzahl von Menschen, 
die solche Wandlungen schon a priori als "unmöglich" 
kateaorisieren. 
"Philosophische" Entscheidungen darüber, was möglich 
und was unmöglich ist, aber stellen eine praktisch durch- 
aus wirksame und viele Menschen beeindruckende Ein- 
schränkung und Tabuisierung schöpferischen Denkens dar. 
Und dies, obgleich faktisch hier aus bloßen Vorurteilen, 
aus Plausiblitätsannahmen sowie bestenfalls aus einer 
Soziologie geschlußfolgert wird, die selbst vorrangig die 
Funktion einer restaurativen Gesellschaftsphilosophie 
übernimmt. 
In sozialpsychologischer Analyse erweisen sich solche mit 
der "menschlichen Natur" operierende Unmöglichkeits- 
postulate als die anspruchsvolle Formulierung unreflek- 
tierter Überzeugungen genau identifizierbarer Gruppen 
oder als Ausdrucksformen eines stilistisch gehobenen 
common sense der Träger einer musisch-literarischen, 
dabei aber wirtschaftsfernen und antitechnischen Menta- 
lität. Stets aber wollen die Wortführer restaurativer und 
regressiver Mentalität bestimmte Deutungen und Eigen- 
schaften des Menschen von jeder Möglichkeit der Wand- 
lung ausschließen. Als wünschenswert oder gar als not- 
wendig gedeutete Eigenschaften heißen dann "wesentlich" 
"echt" oder - wenn sie in sehr deutlichem Widerspruch 
zur Erfahrung stehen - auch "eigentlich". 
Gleiches gilt für den Bereich der normativen Orientie- 
rungen: Hier werden unterschiedliche Auswahlsätze tra- 
ditioneller Vorstellungen von Ursprung und Funktion ver- 
haltensregulierender Pflichten und Ziele als "ewige" Werte 
und Normen gedeutet, die einerseits in der menschlichen 
Natur mit Notwendigkeit verankertund deshalb unwandelbhar 
ARCH +2 (1969) H.5
	        

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