Durchschnittliche
Eintrittswahrschein-
lichkeit (in% )
In einer ganzen Reihe von Großstädten
ist für einige Stunden am Tage jeder
private Autoverkehr untersagt
&
55
Es gibt kaum noch Frauen, die nicht
berufstätig sind
51
Te
Im folgenden sollen nun wenigstens richtungsweise einige,
das soziale Verhalten betreffende Prognosen dargestellt
werden, denen innerhalb eines Zeithorizonts von etwa
dreißig Jahren eine recht hohe Realisierungschance zuge-
sprochen werden kann. Sie ergeben sich aus biosozialen
und sozioökonomischen Trends, aus der vergleichenden
Analyse mit der Entwicklung in Ländern wie USA, Schweden
oder Australien sowie aus einer größeren Reihe von Unter-
suchungen im Bereich der Markt- und Meinungsforschung,
bei denen u.a. den Erwartungen, Zielwerten und Ver-
haltenstendenzen prognosewichtiger Bevölkerungsgruppen
(Heranwachsende, "Innovators" und "Konsumpioniere"')
nachgegangen wurde.
Zunächst einige sozialkulturell bedeutsame Aspekte physi-
scher Veränderungen des Menschen in der industriellen
Großgesellschaft. Hier kann erwartet werden:
eine weiter fortschreitende Akzeleration, die mit einer
sich fortsetzenden Anhebung der durchschnittlichen
Intelligenz verbunden ist
ein weiteres Herausschieben des Klimakteriums, was zu
einer tiefgehenden Umstrukturierung weiblichen Daseins
in der modernen Gesellschaft führen wird
eine weitgehende Beherrschung der großen Infektionskrank-
heiten und der bösartigen Neubildungen, eine Entwick-
lung, die gleichfalls die Lebenserwartung erhöht, vor
allem aber ein verändertes Lebensgefühl schafft
eine tiefgreifende Umgestaltung des physischen Alte-
rungsprozesses, die den altersbedingten Vitalitäts-
und Intelligenzabbau verlangsamt und damit die soziale
Wertigkeit älterer Menschen in starkem Maße anhebt
eine sehr verstärkte Abhängigkeit der sozialen Aktivität
von physischem Wohlbefinden und eine auch die Wohn-
raumgestaltung erheblich beeinflussende Steigerung des
Komfortbedürfnisses.
Es ist kein Zweifel, daß sich diese psychosomatischen
Wandlungen bereits ankündigen, wie wir beispielsweise in
einer Reihe von Erhebungen bei Ärzten ermitteln konnten.
Unzweifelhaft aber bedingen diese physischen Veränderungen
tiefgreifende Umgestaltungen des menschlichen Zusammen-
lebens. Sie betreffen unmittelbar die funktionale Wertigkeit
sowie wohl auch den subjektiven Berechtigungsgrad vieler
überkommener, die Kommunikation im Intimbereich regelnder
Institutionen.
Bedeutsame Verhaltenswandlungen werden mit großer Wahr-
scheinlichkeit ebenfalls im Gefolge der zu beobachtenden
progressiven Entwicklung laufender Erfahrungsakkumulation
und wachsender Innovationshäufigkeit in den Erfahrungs-
wissenschaften, der Technik und der Wirtschaft ausgelöst.
Vor allem führt die wissenschaftliche und technische Re-
volution (Automation, ADV, Atomtechnik) zu einer zu-
nehmenden Verkürzung der Arbeitszeiten in der industriellen
Fertigung und der Bürokratie.
Für einen erheblichen Teil der Menschen hat die Themati-
sierung und Gestaltung der Freizeit schon heute ein Ge-
wicht, das dem der beruflichen Tätigkeit nahezu gleich-
wertig ist. Diese Entwicklung ist jedoch erst in ihren
Anfängen. Dennoch hat sie bereits zu einer Wandlung der
gesamten Lebenseinstellung geführt, die im heutigen Über-
gangsstadium oft als Verunsicherung bestehender Werte
spürbar wird.
Das mit der bürgerlichen Gesellschaft korrespondierende
traditionsgestützte Menschenbild wird sich schon in kurzer
Zeit - bezogen auf die Daseinsbedingungen und Erforder-
nisse der modernen industriellen Gesellschaft - als über-
wiegend negativ und disfunktional auswirken.
Aber auch der "außengeleitete'" Mensch, der sich in
seinem Verhalten vorwiegend nach den Erwartungen und
Angemessenheitsnormen seiner Umwelt richtet, verliert
zunehmend seine sozialstrukturelle Basis. Konformismus
wird immer mehr zu einem sozialen Wert mit negativem
Prestige.
Unzweifelhaft ergibt sich aus der Umstrukturierung der
Arbeitswelt und der steigenden Verfügbarkeit über Freizeit
eine weitgehende Veränderung der Beziehungen des Men-
schen zur Welt überhaupt. Im ganzen Verlauf der über-
blickbaren Geschichte war ja die Arbeitswelt für die
meisten Menschen jener Bereich, in dem sich die Umgangs-
erfahrungen mit der Realität überwiegend formten und
sich das soziale Schicksal des einzelnen entschied.
Infolge der 2. industriellen Revolution und ihren Konse-
quenzen werden Freizeiterwartung und Freizeitverhalten
für einen großen Teil der Menschen zu einem zentralen
Daseinsbereich, der von einem starken Bedürfnis nach
bisher unbekannter persönlicher Entfaltung und Selbstver-
wirklichung geformt wird.
Damit erfahren dann fast alle menschlichen Bedürfnisse
eine folgenreiche Neubewertung. Gegenwärtig bedarf die
Freizeit vom Erlebnishorizont der innerweltlichen Askese
(Max Weber) her noch immer der Rechtfertigung, die in
der Erhaltung und Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit
gefunden wird. Im Grunde sucht man dabei ein "altes"
Schuldgefühl abzuwehren, das viele Menschen in unserer
Gesellschaft noch immer begleitet. Cbwohl Freizeit sozial
gebilligt ist, stempelt sie das "schlechte Gewissen" der
Tradition noch immer zum ethisch mißbilligten Müßiggang.
Auch jüngere Rechtfertigungsversuche, die sich als päda-
gogisch organisierter oder als geltungsbetont-aufwendiger
Freizeitbetrieb darstellen, signalisieren noch jenes latente
Schuldgefühl, das Freizeit in den Dienst "ernsthafter" Ziel-
werte zu stellen sucht.
Bereits die erste industrielle Revolution hatte durch die mit
ihr verbundene Umgestaltung der großgesellschaftlichen
Strukturen zu einer krisenhaft verlaufenden Neuformierung
der Institutionen auch des Intimbereichs geführt. In den
Erschütterungen der Kriegs- und Nachkriegszeit hat sich
dann die von manchen autoritären und anachronistischen
Elementen befreite Familie zunächst als eine der wenigen
verläßlichen und haltgebenden Institutionen erwiesen .
Dagegen wird im Alltagsleben einer sich entfaltenden
Wohlstandsgesellschaft der Zusammenhalt der Familie
allmählich immer mehr gelockert. Hierbei spielt eine
wichtige Rolle, daß die soziale Schutzfunktion der Familie
sowie ihre Garantien für Erziehung und sexuellen Kontakt
durch eine sehr wirksame Verminderung des Realitätsdrucks
und damit in Wechselwirkung stehend auch des ethischen
und normativen Drucks kontinuierlich entwertet werden.
ARCH +2 (1969) H.5