Full text: ARCH+ : Studienhefte für architekturbezogene Umweltforschung und -planung (1970, Jg. 3, H. 9-11)

Hans Jürgen Krahl 
THESEN ZUM ALLGEMEINEN VERHÄLTNIS VON 
WISSENSCHAFTLICHER INTELLIGENZ UND 
PROLETARISCHEM KLASSENBEWUSSTSEIN 
Die revolutionäre Bewegung in Westdeutschland steht 
aufgrund der politischen Verlaufsform ihrer antiautori- 
tären Aktionsgeschichte und ihrer theoretischen Zurech- 
nung zur kritischen Tradition des wissenschaftlichen 
Sozialismus vor dem revolutionstheoretisch und strate- 
gisch entscheidenden Problem: 
1. Wie sind die - der Unterdrückungssituation in den 
spätkapitalistischen Industriemetropolen angemessenen 
und im Medium des antiautoritären Bewußtseins begrün- 
deten - historisch neuen Vernunftsprinzipien der Emanzi- 
pation zur überlieferten Substanz der geschichtlichen 
Klassenkämpfe zu vermitteln, ohne einem undurchschau- 
ten Traditionalismus revolutionärer Situationen zu ver- 
fallen, die sich unausgesprochen und ausschließlich an 
materieller V&relendung, physischer Unterdrückung und 
erfolgreicher Oktoberrevolution orientiert? 
2. Wie ist der Begriff des Klassenbewußtseins als eine 
nicht empirische, gleichwohl daseiende Kategorie 
der gesellschaftlichen Totalität von ausbeuterischer 
Produktion zu rekonstruieren, ohne die Bedürfnisse der 
ausgebeuteten Massen zu verfehlen; also das Problem der 
historischen Genesis des Klassenbewußtseins zu begreifen 
und nicht dessen Konstitution als immer schon vollzogen 
und in der Partei materialisiert metaphysisch vorauszu- 
setzen oder es auf ein empirisch psychologisches Bewußt- 
sein zu verkürzen? 
3. Wie sind die kleinbürgerlichen Verfallsformen des 
antiautoritären Emanzipationsbewußtseins wissenschaft- 
licher Intelligenz, der Zerfall der ideologienkritischen 
Einsicht in den Zwangszusammenhang abstrakter Arbeit 
im ganzen und die Zerfaserung politischer Praxis revolu- 
tHonstheoretisch zu beurteilen, ohne die historisch neue 
Qualität der Wissenschaft als Produktivkraft zu ignorie- 
ren und unbefragt die in der Arbeiterbewegung tradierten 
Interpretationen der Rolle der Intelligenz in Klassen- 
kampf zu übernehmen? 
Die Beantwortung dieser drei Fragen wird die Wahl 
richtiger Strategien sozialrevolutionärer Prozesse in den 
Metropolen und die Konstruktion einer Theorie der Revo- 
lution entscheidend beeinflussen. Alle drei Fragen, die 
gegenwärtig in der sozialistischen Bewegung mehr oder 
weniger theoretisch unter them Thema "Wissenschaftliche 
Intelligenz und proletarischer Klassenkampf" stehen, 
werden mit traditionalistisch verkürzten Vorschlägen be- 
antwortet, die weder die staatsinterventionistisch ver- 
festigte zweite Natur der kapitalistischen Gesellschafts- 
Formation noch die gewandelte Lage der arbeitenden 
Klasse in den Metropolen erfassen, also die Ebenen der 
entfremdeten Arbeit des verdinalichten Bewußtseins und 
verarmten Lebens verfehlen. Die Diskussion bewegt sich 
z.T. in einer enthistorisierten Vorstellungswelt der Okto- 
berrevolution und Leninschen Kaderpartei, die mecha- 
nistische Organisationsmodelle nahelegt und eine sozial- 
revolutionäre Vermittlung von Studenten- und Arbeiter- 
bewegung sabotiert. Rigide Vorstellungen von Kader, un- 
bedingter Zentralisation und eiserner Disziplin, die ana- 
chronistische Leistungsstandards voraussetzen, den hoch- 
zivilisierten Entwicklungsstand der Produktivkräfte, des 
gesellschaftlichen Reichtums und der instrumental isierten 
Kultur nicht einsehen, machen eine der Produktivität 
gesellschaftlicher Arbeit angemessene Entfaltung von 
Spontaneität rückgängig. Mechanistische Vorschläge wie 
die des Genossen Schmierer, der den Standpunkt des 
Proletariats zur Entität ontologisiert und den SDS zum 
Scharnier zwischen zwei einander äußerlichen und ten- 
denziell klassenfeindlichen Bewegungen , der Arbeiter- 
und der Studentenbewegung, verdinglicht, ebenso wie 
die Anschauungen der ML-Gruppen beruhen im Grunde 
auf einem Begriff des warenproduzierenden Kleinbürger- 
tums, der der gesellschaftlichen Realität nicht mehr 
entspricht. Indem sie den "Grundwiderspruch von Kapital 
und Lohnarbeit" identitätsphilosophisch jeder geschicht- 
lichen Veränderung entheben und die kapitalistische Ge- 
sellschaft zu einem scholastischen ordo von Grund-, 
Haupt- und Nebenwidersprüchen verdinglichen, beziehen 
sie sich weder auf die Gesellschaft als Totalität noch auf 
die Emanzipationsbedürfnisse der lohnabhängigen Massen. 
Daraus folgt, daß weder der Strukturwandel der an sich 
seienden Klassenlage durch die Expansion produktiver 
Arbeit im Monopolkapital , noch der kategorialen Struk- 
tur des Klassenbewußtseins, ebensowenig wie der der 
geistigen Arbeit berücksichtigt werden. 
Darauf beziehen sich im folgenden drei Argumente, die, 
ohne unmittelbar konkrete Handlungsanweisungen zu 
liefern, die sozialrevolutionäre Strategienbildung für 
die Metropolen beeinflussen müßten. 
I. Der Übergang vom Konkurrenz- zum Monopolkapi- 
talismus führt, wie in der Kritik der politischen Ökonomie 
von Marx und Engels selbst angedeutet, zu einer Verge- 
sellschaftung des kapitalistischen Privateigentums auf 
dem Boden der kapitalistischen Produktionsweise selber 
und zu einer Vergesellschaftung der produktiven Arbeit 
auf dem Boden der Lohnarbeit. Die von Marx und Engels 
angedeuteten möglichen geschichtlichen Endpunkte des 
Kapitalverhältnisses sind die aktiengesellschaftlichen 
Unternehmungsformen - gleichsam als gesellschaftlicher 
Urtypus des monopolen Privateigentums - und die tech- 
nologische Umsetzung der Wissenschaften ins kapital- 
fixierte Maschinensystem (vgl. Kapital 3, Kap. 27, 
Rohentwurf S. 584 ff.) . 
ARCH+3 (1970) H. 10
	        
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