Hans Jürgen Krahl
THESEN ZUM ALLGEMEINEN VERHÄLTNIS VON
WISSENSCHAFTLICHER INTELLIGENZ UND
PROLETARISCHEM KLASSENBEWUSSTSEIN
Die revolutionäre Bewegung in Westdeutschland steht
aufgrund der politischen Verlaufsform ihrer antiautori-
tären Aktionsgeschichte und ihrer theoretischen Zurech-
nung zur kritischen Tradition des wissenschaftlichen
Sozialismus vor dem revolutionstheoretisch und strate-
gisch entscheidenden Problem:
1. Wie sind die - der Unterdrückungssituation in den
spätkapitalistischen Industriemetropolen angemessenen
und im Medium des antiautoritären Bewußtseins begrün-
deten - historisch neuen Vernunftsprinzipien der Emanzi-
pation zur überlieferten Substanz der geschichtlichen
Klassenkämpfe zu vermitteln, ohne einem undurchschau-
ten Traditionalismus revolutionärer Situationen zu ver-
fallen, die sich unausgesprochen und ausschließlich an
materieller V&relendung, physischer Unterdrückung und
erfolgreicher Oktoberrevolution orientiert?
2. Wie ist der Begriff des Klassenbewußtseins als eine
nicht empirische, gleichwohl daseiende Kategorie
der gesellschaftlichen Totalität von ausbeuterischer
Produktion zu rekonstruieren, ohne die Bedürfnisse der
ausgebeuteten Massen zu verfehlen; also das Problem der
historischen Genesis des Klassenbewußtseins zu begreifen
und nicht dessen Konstitution als immer schon vollzogen
und in der Partei materialisiert metaphysisch vorauszu-
setzen oder es auf ein empirisch psychologisches Bewußt-
sein zu verkürzen?
3. Wie sind die kleinbürgerlichen Verfallsformen des
antiautoritären Emanzipationsbewußtseins wissenschaft-
licher Intelligenz, der Zerfall der ideologienkritischen
Einsicht in den Zwangszusammenhang abstrakter Arbeit
im ganzen und die Zerfaserung politischer Praxis revolu-
tHonstheoretisch zu beurteilen, ohne die historisch neue
Qualität der Wissenschaft als Produktivkraft zu ignorie-
ren und unbefragt die in der Arbeiterbewegung tradierten
Interpretationen der Rolle der Intelligenz in Klassen-
kampf zu übernehmen?
Die Beantwortung dieser drei Fragen wird die Wahl
richtiger Strategien sozialrevolutionärer Prozesse in den
Metropolen und die Konstruktion einer Theorie der Revo-
lution entscheidend beeinflussen. Alle drei Fragen, die
gegenwärtig in der sozialistischen Bewegung mehr oder
weniger theoretisch unter them Thema "Wissenschaftliche
Intelligenz und proletarischer Klassenkampf" stehen,
werden mit traditionalistisch verkürzten Vorschlägen be-
antwortet, die weder die staatsinterventionistisch ver-
festigte zweite Natur der kapitalistischen Gesellschafts-
Formation noch die gewandelte Lage der arbeitenden
Klasse in den Metropolen erfassen, also die Ebenen der
entfremdeten Arbeit des verdinalichten Bewußtseins und
verarmten Lebens verfehlen. Die Diskussion bewegt sich
z.T. in einer enthistorisierten Vorstellungswelt der Okto-
berrevolution und Leninschen Kaderpartei, die mecha-
nistische Organisationsmodelle nahelegt und eine sozial-
revolutionäre Vermittlung von Studenten- und Arbeiter-
bewegung sabotiert. Rigide Vorstellungen von Kader, un-
bedingter Zentralisation und eiserner Disziplin, die ana-
chronistische Leistungsstandards voraussetzen, den hoch-
zivilisierten Entwicklungsstand der Produktivkräfte, des
gesellschaftlichen Reichtums und der instrumental isierten
Kultur nicht einsehen, machen eine der Produktivität
gesellschaftlicher Arbeit angemessene Entfaltung von
Spontaneität rückgängig. Mechanistische Vorschläge wie
die des Genossen Schmierer, der den Standpunkt des
Proletariats zur Entität ontologisiert und den SDS zum
Scharnier zwischen zwei einander äußerlichen und ten-
denziell klassenfeindlichen Bewegungen , der Arbeiter-
und der Studentenbewegung, verdinglicht, ebenso wie
die Anschauungen der ML-Gruppen beruhen im Grunde
auf einem Begriff des warenproduzierenden Kleinbürger-
tums, der der gesellschaftlichen Realität nicht mehr
entspricht. Indem sie den "Grundwiderspruch von Kapital
und Lohnarbeit" identitätsphilosophisch jeder geschicht-
lichen Veränderung entheben und die kapitalistische Ge-
sellschaft zu einem scholastischen ordo von Grund-,
Haupt- und Nebenwidersprüchen verdinglichen, beziehen
sie sich weder auf die Gesellschaft als Totalität noch auf
die Emanzipationsbedürfnisse der lohnabhängigen Massen.
Daraus folgt, daß weder der Strukturwandel der an sich
seienden Klassenlage durch die Expansion produktiver
Arbeit im Monopolkapital , noch der kategorialen Struk-
tur des Klassenbewußtseins, ebensowenig wie der der
geistigen Arbeit berücksichtigt werden.
Darauf beziehen sich im folgenden drei Argumente, die,
ohne unmittelbar konkrete Handlungsanweisungen zu
liefern, die sozialrevolutionäre Strategienbildung für
die Metropolen beeinflussen müßten.
I. Der Übergang vom Konkurrenz- zum Monopolkapi-
talismus führt, wie in der Kritik der politischen Ökonomie
von Marx und Engels selbst angedeutet, zu einer Verge-
sellschaftung des kapitalistischen Privateigentums auf
dem Boden der kapitalistischen Produktionsweise selber
und zu einer Vergesellschaftung der produktiven Arbeit
auf dem Boden der Lohnarbeit. Die von Marx und Engels
angedeuteten möglichen geschichtlichen Endpunkte des
Kapitalverhältnisses sind die aktiengesellschaftlichen
Unternehmungsformen - gleichsam als gesellschaftlicher
Urtypus des monopolen Privateigentums - und die tech-
nologische Umsetzung der Wissenschaften ins kapital-
fixierte Maschinensystem (vgl. Kapital 3, Kap. 27,
Rohentwurf S. 584 ff.) .
ARCH+3 (1970) H. 10