Full text: ARCH+ : Studienhefte für architekturbezogene Umweltforschung und -planung (1970, Jg. 3, H. 9-11)

politischer Agitation ein. 
Der konkrete Wille zu solcher Praxis zeigt sich im Ent- 
schluß Berliner Architekten und Architekturstudenten, 
Kontor und Hochschule mit dem Sanierungsgebiet Kreuz- 
berg als Arbeitsfeld zu vertauschen. Das Sanierungsge- 
biet Kreuzberg ist ein Wohnquartier der frühen Gründer- 
zeit. Es wird von Arbeitern und Arbeiterrentnern der 
billigen Mieten wegen bewohnt und soll als Modell für 
die geplante Sanierung der Städte der Bundesrepublik 
dienen. Durch eine Stadtautobahn, Altbauten sollen 
durch Flächensanierung vernichtet und durch Neubauten 
mit vervierfachter Miete ersetzt werden. Drastisch ist 
in diesem Sanierungsgebiet die organisierte Zerstörung 
von Schauplätzen kollektiver Handlung und deren Er- 
setzung durch isolierte Wohnzellen, die individualisierte 
Bedürfnisse zu befriedigen haben, vermittelt. Das Be- 
dürfnis der Arbeiter nach einer Veränderung ihrer Klas- 
senlage, die sich in der Verwandlung der Wohnung in 
einen Ort allseitiger Produktion seiner gesellschaftlichen 
Fähigkeiten ausdrückte, wird in Konsum abgebogen. 
Der Versuch der Bourgeoisie, die Bedürfnisse in der 
Wohnsphäre ästhetisch, durch Isolierung von der Pro- 
duktionssphäre, zu befriedigen, beantwortet das Ar- 
beitskollektiv mit einer Praxis, die die politisch-ökono- 
mische Vermittlung dieses Ästhetisierungsversuches auf- 
zeigen und einer architektonischen Alternative konfron- 
tieren soll. 
Die architektonische Alternative des Arbeitskollektivs 
bestimmt sich in folgender Tätigkeit: Okkupation von 
aufgelassenen Straßenläden und Fabrikhallen des Sanie- 
rungsgebietes als lokale Zentren für Gruppen mit spezi- 
fischer Aufgabenstellung; organisierender Zentralrat, 
Schüler- und Kinderläden, Straßentheater, Informations- 
büros; Herstellung von Flugblättern, die die Planungs- 
praktik der Wohnbaugesellschaften an aktuellen Beispie- 
len darstellen; Redaktion einer Zeitung, in der die 
Konflikte der Arbeiterklasse mit dem Grundeigentum 
am Beispiel ihres Wohnquartiers analysiert werden; 
Verteilung von Hauslisten, in denen die schweren Mängel 
der Wohnungen aufgezeigt und auf die Möglichkeit einer 
Mietverweigerung hingewiesen wird; Gründung eines 
Arbeitskreises von Juristen, der die Arbeiter in den Pro- 
zessen gegen die klagenden Hauseigentümer und Ver- 
walter unterstützt; Zusammenarbeit mit Gruppen, die 
innerhalb der Fabriksbetriebe politische Aufklärung 
leisten; letztlich, und erst hier figuriert, was traditio- 
nell als architektonische Praxis begriffen wird, Entwurf 
von architektonischen Alternativen, die auf der Grund- 
lage ökonomischer Kalkulation in permanenter Wander- 
ausstellung im Sanierungsgebiet gezeigt werden. 
Ich habe das Beispiel der Tätigkeit des Arbeitskollektivs 
gebracht, um zu zeigen, wie weit der Begriff architek- 
tonischer Technik gefaßt werden muß, um zu einem tak- 
tischen, ins Produktionsverhältnis eingreifenden Begriff 
zu werden. 
In der politischen Agitation der Lohn- und Mietabhängi- 
gen durch den Architekten konkretisiert sich der Begriff 
von Planung. Die architektonische Alternative konstitu- 
iert sich nicht als positives Resultat, als Bauwerk, son- 
dern ist, in strenger Aufhebung des Begriffes Architektur, 
wesentlich Planungstätigkeit, in der die Arbeiter ihre 
eigenen Bedürfnisse selbst einbringen. Eine emanzipie- 
rende Architektur setzt eine Emanzipation des Planungs- 
prozesses voraus. Der von der Masse der Mieter durchge- 
führte und vom Architekten organisatorisch unterstützte 
Mieterstreik, in engen Bezug zur Strategie des Arbeits- 
streiks gestellt, kann zum praktischen Anfang dieser 
Emanzipation werden. 
nn 
Bleibt die politische Aktivierung der von der Sanierung 
Betroffenen in der Tätigkeit des Arbeitskollektivs zunächst 
abstraktes Postulat, so wirkt sie doch als Tätigkeit auf 
die Gruppe zurück: die Architekten erfahren praktisch 
die Wirkung der Zusammenarbeit mit Gruppen der ver- 
schiedenen Fachbereiche, wie Juristen, Ökonomen, 
Soziologen, Lehrer etc. Die Notwendigkeit, für die 
Agitation eine konkrete Analyse der über Architektur 
vermittelten Zwänge zu erstellen, hebt die gängige 
Arbeitsteilung auf und produziert eine Solidarität, die 
sie auf Zusammenarbeit mit Mietern einübt. Ohne 
eigentlichen Zusammenhang mit diesen, bleibt jedoch 
die politische Tendenz populistisch. Die Funktion des 
Architekten, der Arbeiterklasse die architektonischen 
Produktionsmittel aneignen zu helfen, setzt eine Ver- 
mittlungsform voraus, die seine Analysen der breiten 
Masse der Arbeiter zugänglich macht. Voraussetzung 
dazu ist, daß er sich als zur Arbeiterklasse gehörig er- 
kennt und sich in der aus ihr sich bildenden Partei organi- 
siert. Nur innerhalb der Partei kann er wirksam die 
gesellschaftliche Aneignung der architektonischen Pro- 
duktionsmittel vorbereiten und lernen, Produzent im 
vorher definierten Sinne zu werden. 
Literaturhinweise 
(1) Benjamin, Walter: Versuche über Brecht; Suhrkamp 
(2) Karl Marx, Kapital I, Dietz-Verlag 1959, S. 469. 
"Die Scheidung der geistigen Potenzen des Produk- 
tionsprozesses von der Handarbeit und die Verwand- 
lung dersetben in Mächte des Kapitals über die 
Arbeit vollendet sich... in der auf der Grundlage 
der Maschinerie aufgebauten Industrie." (Karl Marx. 
Kapital I, S. 444.) 
Vergl. Frankfurter Rundschau, "Arbeitswelt der 
70iger Jahre", Beilage, 11. November 1969 
MEW, Ba. 25, S. 311; zit. nach Hans G. Helms, 
"Fetisch Revolution", Luchterhand 1969 
Vergl. Straßenbautechnik, 15. November 1969. 
Zahl der Beschäftigten/je Betrieb: 1967: 1-19 35,8 
Prozent, 20-49 24,2 Prozent, 50-99 17,3 Prozent, 
100-199 13,3 Prozent, 200-499 7,3 Prozent, 500 
und mehr 1,7 Prozent. 1967 hatten also 60 Prozent 
aller Baubetriebe unter 50 Arbeitnehmer 
Vergl. "Rationeller Bauen", Dezember 1968: Der 
Gesamtanteil des Fertigteilbaues an den Baukosten 
betrug in der BRD 1967 5,6 Prozent bei Wohnbauten, 
10,6 Prozent bei "Nichtwohngebäuden'". Bemerkens- 
wert ist die Zurücksetzung der Präfabrikation im 
Wohnungsbau. Zum Vergleich diene die UdSSR, die 
bereits 1965 85 Prozent aller Wohnungen vorfertigte 
"Die Bauwirtschaft", 7. August 1969 
Vergl. Untersuchungen des IFO-Institutes München 
1965: Nur 56 Prozent aller Baufirmen planen den 
Betrieb ihrer Baustellen. Selbst Unternehmen in der 
Größe von 250 Arbeitern waren zu 30 Prozent ohne 
Bauablaufplanung. "Allein durch eine bessere zeit- 
liche, Abstimmung der Produktion... hätte man einen 
um 20 Prozent höheren Gewinn erwirtschaften können 
(9) "Rationeller Bauen", Dezember 1968 
(10) Veral. "Rationeller Bauen", Dezember 1968: "In 
(3) 
(4) 
il 
ARCH+ 3 (1970) H. 9
	        

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