politischer Agitation ein.
Der konkrete Wille zu solcher Praxis zeigt sich im Ent-
schluß Berliner Architekten und Architekturstudenten,
Kontor und Hochschule mit dem Sanierungsgebiet Kreuz-
berg als Arbeitsfeld zu vertauschen. Das Sanierungsge-
biet Kreuzberg ist ein Wohnquartier der frühen Gründer-
zeit. Es wird von Arbeitern und Arbeiterrentnern der
billigen Mieten wegen bewohnt und soll als Modell für
die geplante Sanierung der Städte der Bundesrepublik
dienen. Durch eine Stadtautobahn, Altbauten sollen
durch Flächensanierung vernichtet und durch Neubauten
mit vervierfachter Miete ersetzt werden. Drastisch ist
in diesem Sanierungsgebiet die organisierte Zerstörung
von Schauplätzen kollektiver Handlung und deren Er-
setzung durch isolierte Wohnzellen, die individualisierte
Bedürfnisse zu befriedigen haben, vermittelt. Das Be-
dürfnis der Arbeiter nach einer Veränderung ihrer Klas-
senlage, die sich in der Verwandlung der Wohnung in
einen Ort allseitiger Produktion seiner gesellschaftlichen
Fähigkeiten ausdrückte, wird in Konsum abgebogen.
Der Versuch der Bourgeoisie, die Bedürfnisse in der
Wohnsphäre ästhetisch, durch Isolierung von der Pro-
duktionssphäre, zu befriedigen, beantwortet das Ar-
beitskollektiv mit einer Praxis, die die politisch-ökono-
mische Vermittlung dieses Ästhetisierungsversuches auf-
zeigen und einer architektonischen Alternative konfron-
tieren soll.
Die architektonische Alternative des Arbeitskollektivs
bestimmt sich in folgender Tätigkeit: Okkupation von
aufgelassenen Straßenläden und Fabrikhallen des Sanie-
rungsgebietes als lokale Zentren für Gruppen mit spezi-
fischer Aufgabenstellung; organisierender Zentralrat,
Schüler- und Kinderläden, Straßentheater, Informations-
büros; Herstellung von Flugblättern, die die Planungs-
praktik der Wohnbaugesellschaften an aktuellen Beispie-
len darstellen; Redaktion einer Zeitung, in der die
Konflikte der Arbeiterklasse mit dem Grundeigentum
am Beispiel ihres Wohnquartiers analysiert werden;
Verteilung von Hauslisten, in denen die schweren Mängel
der Wohnungen aufgezeigt und auf die Möglichkeit einer
Mietverweigerung hingewiesen wird; Gründung eines
Arbeitskreises von Juristen, der die Arbeiter in den Pro-
zessen gegen die klagenden Hauseigentümer und Ver-
walter unterstützt; Zusammenarbeit mit Gruppen, die
innerhalb der Fabriksbetriebe politische Aufklärung
leisten; letztlich, und erst hier figuriert, was traditio-
nell als architektonische Praxis begriffen wird, Entwurf
von architektonischen Alternativen, die auf der Grund-
lage ökonomischer Kalkulation in permanenter Wander-
ausstellung im Sanierungsgebiet gezeigt werden.
Ich habe das Beispiel der Tätigkeit des Arbeitskollektivs
gebracht, um zu zeigen, wie weit der Begriff architek-
tonischer Technik gefaßt werden muß, um zu einem tak-
tischen, ins Produktionsverhältnis eingreifenden Begriff
zu werden.
In der politischen Agitation der Lohn- und Mietabhängi-
gen durch den Architekten konkretisiert sich der Begriff
von Planung. Die architektonische Alternative konstitu-
iert sich nicht als positives Resultat, als Bauwerk, son-
dern ist, in strenger Aufhebung des Begriffes Architektur,
wesentlich Planungstätigkeit, in der die Arbeiter ihre
eigenen Bedürfnisse selbst einbringen. Eine emanzipie-
rende Architektur setzt eine Emanzipation des Planungs-
prozesses voraus. Der von der Masse der Mieter durchge-
führte und vom Architekten organisatorisch unterstützte
Mieterstreik, in engen Bezug zur Strategie des Arbeits-
streiks gestellt, kann zum praktischen Anfang dieser
Emanzipation werden.
nn
Bleibt die politische Aktivierung der von der Sanierung
Betroffenen in der Tätigkeit des Arbeitskollektivs zunächst
abstraktes Postulat, so wirkt sie doch als Tätigkeit auf
die Gruppe zurück: die Architekten erfahren praktisch
die Wirkung der Zusammenarbeit mit Gruppen der ver-
schiedenen Fachbereiche, wie Juristen, Ökonomen,
Soziologen, Lehrer etc. Die Notwendigkeit, für die
Agitation eine konkrete Analyse der über Architektur
vermittelten Zwänge zu erstellen, hebt die gängige
Arbeitsteilung auf und produziert eine Solidarität, die
sie auf Zusammenarbeit mit Mietern einübt. Ohne
eigentlichen Zusammenhang mit diesen, bleibt jedoch
die politische Tendenz populistisch. Die Funktion des
Architekten, der Arbeiterklasse die architektonischen
Produktionsmittel aneignen zu helfen, setzt eine Ver-
mittlungsform voraus, die seine Analysen der breiten
Masse der Arbeiter zugänglich macht. Voraussetzung
dazu ist, daß er sich als zur Arbeiterklasse gehörig er-
kennt und sich in der aus ihr sich bildenden Partei organi-
siert. Nur innerhalb der Partei kann er wirksam die
gesellschaftliche Aneignung der architektonischen Pro-
duktionsmittel vorbereiten und lernen, Produzent im
vorher definierten Sinne zu werden.
Literaturhinweise
(1) Benjamin, Walter: Versuche über Brecht; Suhrkamp
(2) Karl Marx, Kapital I, Dietz-Verlag 1959, S. 469.
"Die Scheidung der geistigen Potenzen des Produk-
tionsprozesses von der Handarbeit und die Verwand-
lung dersetben in Mächte des Kapitals über die
Arbeit vollendet sich... in der auf der Grundlage
der Maschinerie aufgebauten Industrie." (Karl Marx.
Kapital I, S. 444.)
Vergl. Frankfurter Rundschau, "Arbeitswelt der
70iger Jahre", Beilage, 11. November 1969
MEW, Ba. 25, S. 311; zit. nach Hans G. Helms,
"Fetisch Revolution", Luchterhand 1969
Vergl. Straßenbautechnik, 15. November 1969.
Zahl der Beschäftigten/je Betrieb: 1967: 1-19 35,8
Prozent, 20-49 24,2 Prozent, 50-99 17,3 Prozent,
100-199 13,3 Prozent, 200-499 7,3 Prozent, 500
und mehr 1,7 Prozent. 1967 hatten also 60 Prozent
aller Baubetriebe unter 50 Arbeitnehmer
Vergl. "Rationeller Bauen", Dezember 1968: Der
Gesamtanteil des Fertigteilbaues an den Baukosten
betrug in der BRD 1967 5,6 Prozent bei Wohnbauten,
10,6 Prozent bei "Nichtwohngebäuden'". Bemerkens-
wert ist die Zurücksetzung der Präfabrikation im
Wohnungsbau. Zum Vergleich diene die UdSSR, die
bereits 1965 85 Prozent aller Wohnungen vorfertigte
"Die Bauwirtschaft", 7. August 1969
Vergl. Untersuchungen des IFO-Institutes München
1965: Nur 56 Prozent aller Baufirmen planen den
Betrieb ihrer Baustellen. Selbst Unternehmen in der
Größe von 250 Arbeitern waren zu 30 Prozent ohne
Bauablaufplanung. "Allein durch eine bessere zeit-
liche, Abstimmung der Produktion... hätte man einen
um 20 Prozent höheren Gewinn erwirtschaften können
(9) "Rationeller Bauen", Dezember 1968
(10) Veral. "Rationeller Bauen", Dezember 1968: "In
(3)
(4)
il
ARCH+ 3 (1970) H. 9