Karl Albrecht Eppinger, Ingo Hoppe, Bernd Jansen,
Rainer Mavfart
WOHNEN, POLITIK UND WOHNUNGSPOLITIK
Vorbemerkung
Die "Wohnungsfrage'' rückt seit einiger Zeit wieder
einmal in den Vordergrund des öffentlichen Interesses.
War es zunächst die mehr akademisch-ästhetische
Kritik an Zersiedlung und Monotonie, an Verlust der
Urbanität und Bedrohung der städtischen Gesellschaft,
so tritt jetzt zunehmend eine mehr materielle Kate-
gorie hervor: einerseits durch die Erkenntnis, daß
das, was man gemeinhin mit dem Begriff Wohnungsnot
bezeichnete und längst in die Archive der Geschichte
verwiesen glaubte, doch nicht so historisch ist, und
zum anderen in der Form sprunghaft steigender Mie-
ten aufgrund ebenso sprunghaft steigender Bau- und
Grundstückspreise in Verbindung mit der Re-Liberali-
sierung des Wohnungsmarktes. Dabei dringt immer
mehr ins Bewußtsein, daß diese Seite des Problems
gegenüber der mehr ästhetischen durchaus eine poli-
tische Dimension aufzuweisen hat, die erneute und
umfassende staatliche Interventionen erfordert, wenn
die Ausweitung in eine politische Krise vermieden
werden soll.
Über diese aktuelle Zuspitzung des Konfliktes hinaus
gilt es, das Wohnungsproblem im Kapitalismus in sei-
nem allgemeinen politischen und ökonomischen Stellen-
wert zu verdeutlichen. Das ist um so wichtiger, als
sich bei fast jeder Erörterung des Problems, auch
wenn es völlig in den Erscheinungen befangen bleibt,
doch der gemeinsame Ausgangs- oder Endpunkt findet,
daß es sich bei der Wohnung um eine Ware ganz be-
sonderer Art handele, die es nicht gestatte, den Woh-
nungsmarkt wie jeden beliebigen anderen sich selbst
zu überlassen, nicht zuletzt, weil der Wohnungsmarkt
moralische, sittliche etc. Auswirkungen auf die ge-
samte Volksgemeinschaft ausübe und deshalb beson-
dere Verhaltensmaximen der Marktbeteiligten und des
Staates erfordert.
Im folgenden soll zunächst auf die Legitimation dieser
Besonderheitsthese eingegangen und ihr der Versuch
einer politökonomischen Analyse der Wohnungspro-
duktion und -vermietung und der staatlichen Wohnungs-
politik gegenübergestellt werden. Dabei interessieren
vor allem die Fragen, wie die Berufspraxis von Archi-
tekten in diesem Bezugsrahmen einzuordnen ist und
welche Ansätze sich für eine politische Strategie in
der Stadtteilarbeit ergeben.
Die Arbeit ist hervorgegangen aus einem Seminar über
Wohnungspolitik an der Architekturfakultät der Techni-
schen Universität Berlin. Die Verfasser sind sich be-
wußt, daß sie einen vorläufigen Charakter hat und nicht
den Anspruch auf fertige Ergebnisse erheben kann.
I. Die Wohnung als Ware
1. Die "Besonderheit'' der Ware Wohnung
Solange über Wohnungsprobleme und insbesondere über
die '"Wohnungsnot'' im Kapitalismus geschrieben und
gesprochen wird, ist die Rede von einer ''Besonderheit"'
des Marktes, auf dem die Wohnungen getauscht werden
bzw. von der '"Besonderheit'' des Gutes Wohnung. Seit-
dem von staatlichen Instanzen eine aktive Wohnungspo-
litik betrieben wird und ein immer größerer Anteil der
Wohnungen direkt oder indirekt erst aufgrund dieser
staatlichen Interventionen entsteht, werden sie im we-
sentlichen mit dieser prinzipiellen Besonderheit der
Ware Wohnung begründet.
Die Kriterien und Begründungen der ''Besonderheit''
weisen nicht nur in sich ein weites Spektrum aus, son-
dern haben sich im Laufe der Zeit selbst verändert.
Im 19, Jahrhundert taucht immer wieder das Argument
der sittenbildenden, hygienischen und befriedenden
Wirkung von ausreichenden Wohnverhältnissen auf; nach
dem Ersten Weltkrieg wird zumeist auf das Grundbe-
dürfnis Wohnen rekurriert, dessen Befriedigung, falls
es nicht über den freien Markt zu erzielen sei, durch
staatliche Politik zu erfolgen habe, Etwas vergröbert
kann man feststellen, daß die '"'Besonderheit'' jeweils
so interpretiert wird, daß man von den herrschenden
Interessen und Ideologien ausgehend die reale Situation
auf dem Wohnungsmarkt interpretiert und die Tatsache,
daß zwischen beiden in aller Regel eine beträchtliche
Diskrepanz klafft, damit erklärt, daß hier eben Beson-
derheiten wirken, die eine selbsttätige Angleichung von
Realität und Ideologie verhindern, so daß dem sonst so
gelobten freien Markt Beschränkungen auferlegt werden
ARCH+3 (1970) H._11