Full text: ARCH+ : Studienhefte für architekturbezogene Umweltforschung und -planung (1970, Jg. 3, H. 9-11)

Karl Albrecht Eppinger, Ingo Hoppe, Bernd Jansen, 
Rainer Mavfart 
WOHNEN, POLITIK UND WOHNUNGSPOLITIK 
Vorbemerkung 
Die "Wohnungsfrage'' rückt seit einiger Zeit wieder 
einmal in den Vordergrund des öffentlichen Interesses. 
War es zunächst die mehr akademisch-ästhetische 
Kritik an Zersiedlung und Monotonie, an Verlust der 
Urbanität und Bedrohung der städtischen Gesellschaft, 
so tritt jetzt zunehmend eine mehr materielle Kate- 
gorie hervor: einerseits durch die Erkenntnis, daß 
das, was man gemeinhin mit dem Begriff Wohnungsnot 
bezeichnete und längst in die Archive der Geschichte 
verwiesen glaubte, doch nicht so historisch ist, und 
zum anderen in der Form sprunghaft steigender Mie- 
ten aufgrund ebenso sprunghaft steigender Bau- und 
Grundstückspreise in Verbindung mit der Re-Liberali- 
sierung des Wohnungsmarktes. Dabei dringt immer 
mehr ins Bewußtsein, daß diese Seite des Problems 
gegenüber der mehr ästhetischen durchaus eine poli- 
tische Dimension aufzuweisen hat, die erneute und 
umfassende staatliche Interventionen erfordert, wenn 
die Ausweitung in eine politische Krise vermieden 
werden soll. 
Über diese aktuelle Zuspitzung des Konfliktes hinaus 
gilt es, das Wohnungsproblem im Kapitalismus in sei- 
nem allgemeinen politischen und ökonomischen Stellen- 
wert zu verdeutlichen. Das ist um so wichtiger, als 
sich bei fast jeder Erörterung des Problems, auch 
wenn es völlig in den Erscheinungen befangen bleibt, 
doch der gemeinsame Ausgangs- oder Endpunkt findet, 
daß es sich bei der Wohnung um eine Ware ganz be- 
sonderer Art handele, die es nicht gestatte, den Woh- 
nungsmarkt wie jeden beliebigen anderen sich selbst 
zu überlassen, nicht zuletzt, weil der Wohnungsmarkt 
moralische, sittliche etc. Auswirkungen auf die ge- 
samte Volksgemeinschaft ausübe und deshalb beson- 
dere Verhaltensmaximen der Marktbeteiligten und des 
Staates erfordert. 
Im folgenden soll zunächst auf die Legitimation dieser 
Besonderheitsthese eingegangen und ihr der Versuch 
einer politökonomischen Analyse der Wohnungspro- 
duktion und -vermietung und der staatlichen Wohnungs- 
politik gegenübergestellt werden. Dabei interessieren 
vor allem die Fragen, wie die Berufspraxis von Archi- 
tekten in diesem Bezugsrahmen einzuordnen ist und 
welche Ansätze sich für eine politische Strategie in 
der Stadtteilarbeit ergeben. 
Die Arbeit ist hervorgegangen aus einem Seminar über 
Wohnungspolitik an der Architekturfakultät der Techni- 
schen Universität Berlin. Die Verfasser sind sich be- 
wußt, daß sie einen vorläufigen Charakter hat und nicht 
den Anspruch auf fertige Ergebnisse erheben kann. 
I. Die Wohnung als Ware 
1. Die "Besonderheit'' der Ware Wohnung 
Solange über Wohnungsprobleme und insbesondere über 
die '"Wohnungsnot'' im Kapitalismus geschrieben und 
gesprochen wird, ist die Rede von einer ''Besonderheit"' 
des Marktes, auf dem die Wohnungen getauscht werden 
bzw. von der '"Besonderheit'' des Gutes Wohnung. Seit- 
dem von staatlichen Instanzen eine aktive Wohnungspo- 
litik betrieben wird und ein immer größerer Anteil der 
Wohnungen direkt oder indirekt erst aufgrund dieser 
staatlichen Interventionen entsteht, werden sie im we- 
sentlichen mit dieser prinzipiellen Besonderheit der 
Ware Wohnung begründet. 
Die Kriterien und Begründungen der ''Besonderheit'' 
weisen nicht nur in sich ein weites Spektrum aus, son- 
dern haben sich im Laufe der Zeit selbst verändert. 
Im 19, Jahrhundert taucht immer wieder das Argument 
der sittenbildenden, hygienischen und befriedenden 
Wirkung von ausreichenden Wohnverhältnissen auf; nach 
dem Ersten Weltkrieg wird zumeist auf das Grundbe- 
dürfnis Wohnen rekurriert, dessen Befriedigung, falls 
es nicht über den freien Markt zu erzielen sei, durch 
staatliche Politik zu erfolgen habe, Etwas vergröbert 
kann man feststellen, daß die '"'Besonderheit'' jeweils 
so interpretiert wird, daß man von den herrschenden 
Interessen und Ideologien ausgehend die reale Situation 
auf dem Wohnungsmarkt interpretiert und die Tatsache, 
daß zwischen beiden in aller Regel eine beträchtliche 
Diskrepanz klafft, damit erklärt, daß hier eben Beson- 
derheiten wirken, die eine selbsttätige Angleichung von 
Realität und Ideologie verhindern, so daß dem sonst so 
gelobten freien Markt Beschränkungen auferlegt werden 
ARCH+3 (1970) H._11
	        

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