müssen. Dementsprechend kann man drei verschiede-
ne Perioden unterscheiden:
a) Im 19. Jahrhundert zeigte sich die Diskrepanz von
Ideologie und Realität vorwiegend in einer um sich
greifenden Wohnungsnot der Kleinbourgeosie haupt-
sächlich in den großen Städten. Die wesentlich
schlechteren Wohnverhältnisse des Proletariats
interessierten dagegen nur insoweit, als aus ihnen
Seuchengefahren und systemgefährdende Auswir-
kungen entstehen können.
b) Zwischen den beiden Kriegen wird die Diskrepanz
in erster Linie dadurch beschrieben, daß der freie
Wohnungsmarkt der Ideologie von der völkischen
Gemeinschaft nicht gerecht wird und statt einer
Reihe von überschaubaren Siedlungen für Volksge-
nossen immer teurere Wohnungen in den Ballungs-
gebieten entstehen 1äßt.
2) Nach dem zweiten Weltkrieg tritt in der entstehen-
den Bundesrepublik insoweit eine Modifikation ein,
als die Ideologie sich nicht mehr auf derartige vor-
kapitalistische Wirtschafts- und Siedlungsformen
zentriert, sondern auf den Schutz und die Restau-
rierung der kapitalistischen Ordnung selbst. Des-
halb mußte behauptet werden, daß der freie Markt
für eine zufriedenstellende Lösung der Wohnungs-
frage aufkommen könne. Weiter galt es, das Haus-
und Grundeigentum von den Fesseln der staatlichen
Bewirtschaftung zu befreien, um damit einen Schutz-
gürtel um die Klasse der Eigentümer an den Pro-
duktionsmitteln zu legen. Deshalb ist der Wohnungs-
markt wieder als ein '"freier'' zu installieren; die
Besonderheit der Ware Wohnung wird jetzt darin
geseuen, daß dieser freie Markt durch staatliche
Subvention und temporäre Bewirtschaftung erst
wieder funktionsfähig zu machen ist, damit der
Staat sich dann wieder auf einen sozialen Ausgleich,
i.e. "marktkonforme'' Armenfürsorge beschränken
kann.
("Die Festlegung der Mieten entgegen der allgemeinen
Markttendenz erzeugte in der Vergangenheit die sog.
Wohnungsnot, die keineswegs, wie man vielleicht heu-
te leichter sieht, einen absoluten Mangel an Wohnraum
bedeutete, sondern eine künstlich herbeigeführte Markt-
störung, deren Ursache, eben die Stabilisierung der
Mieten, sich klar erkennen läßt.'' A. Müller-Armack,
Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft, Hamburg
1948, S. 114)
Der gemeinsame Nenner der verschiedenen Bestim-
mungen der ''Besonderheit'' der Ware Wohnung liegt
also darin, daß der freie kapitalistische Markt in der
Regel nicht in der Lage ist, Ergebnisse zu produzie-
ren, die mit den herrschenden Interessen bzw. Ideolo-
gien im Einklang stehen. Da die herrschenden Interes-
sen diejenigen der jeweils Herrschenden sind, braucht
nicht betont zu werden, daß die in aller Regel miserab-
len Wohnverhältnisse des Proletariats insbesondere
in den Metropolen nur insoweit interessierten, als sich
aus ihnen eine Beeinträchtigung oder Bedrohung der
Herrschenden ergeben konnte.
Aus der so bestimmten Besonderheit ergibt sich, daß
das Wohnen im Kapitalismus seit seiner Entfaltung
einen breiten Raum in der politischen und ökonomi-
schen Diskussion beanspruchte, wobei diejenigen An-
sätze. die - von der spezifisch vom Kapitalismus pro-
duzierten allgemeinen Wohnungsnot ausgehend - den
Kapitalismus selbst kritisieren, eine verschwindende
Minderheit darstellen. So konnte "Die Lage der arbei-
tenden Klasse in England'' (1845) von F. Engels, in dem
die Beschreibung der Wohnverhältnisse einen breiten
Raum einnimmt, zwar ein ungeheures Aufsehen er-
regen; dieses Aufsehen hatte jedoch mehr den Charak-
ter einer moralischen Empörung und Entrüstung und
konnte die Bourgeosie nicht in ihrer Selbstgerechtig-
keit treffen.
Die Wohnungsnot wurde erst dann zu einem vieldisku-
tierten Objekt der Bourgeosie und ihrer Wissenschaft,
als sie sich auf Teile der Bourgeosie ausweitete,
("Hierdurch unterscheidet sich eben die Wohnungsnoth
der Gegenwart von der der früheren Zeit, daß sie
Schichten der Gesellschaft umfaßt, welche bisher nur
wenig berührt wurden.' Engel, Die moderne Wohnungs-
noth, Leipzig 1873, S. 3)
Als so immer größere Teile des Kleinbürgertums zu
Opfern der "modernen Wohnungsnot'' wurden (denn das
Wohnungselend des Proletariats interessierte in diesem
Rahmen kaum), mußte die Grundideologie des Kapita-
lismus - die Selbstharmonisierung der freien Märkte -
in Frage gestellt werden. Trotz aller Betätigungsfrei-
heit der Bourgeosie in der Bodenspekulation, im Haus-
bau und in der Wohnungsvermietung zeigte es sich, daß
nicht nur keine Harmonisierung eintrat, sondern eine
Verschlechterung der Lage des Kleinbürgertums. Den
Weg einer staatlichen Wohnungspolitik konnte man zu
dieser Zeit nicht beschreiten, da damit offenkundig
geworden wäre, daß die Freiheit der Märkte in jedem
Fall zu den bestmöglichen Resultaten führte. Da dieses
Postulat auf jeden Fall unangetastet bleiben sollte, bliek
nichts anderes übrig, als zu der Konstatierung der Be-
sonderheit der Ware Wohnung zu gelangen und als ein-
ziges Remedium die Selbsthilfe der Betroffenen zu
empfehlen.
Erst als im Monopolkapitalismus der wundertätige
Glaube an die Kräfte des freien Marktes endgültig zer-
stoben war und insbesondere die Weltwirtschaftskrise
verdeutlichte, daß der Monopolkapitalismus weder auf
eine staatliche Krisenvermeidungspolitik noch auf eine
umfassende Sozialpolitik verzichten konnte, erhielt
die "Besonderheit'' einen anderen Inhalt: Die Ideologie
ging nun davon aus, daß jedem ein Recht auf Wohnung
zustehe, daß aufgrund der ''Besonderheiten'' der Ware
Wohnung der freie Markt dies nicht leisten könne, und
daß zur Überwindung dieser Diskrepanz eine staatliche
Politik eingesetzt werden mußte. Diese blieb an die
Voraussetzung gebunden, daß die Interventionen markt-
konform sein müßten, d.h., daß der Staat durch die
Formulierung der Wohnbauprogramme, durch Subven-
tionen etc. zwar tief in den freien Markt eingreifen
kann, aber daß diese Eingriffe so instrumentalisiert
werden, daß sie im Ergebnis nicht eine Überwindung
des Kapitalismus, sondern dessen Stabilisierung be-
wirken sollen.
Die Ausprägungen der '!'Besonderheit''
Eine wesentliche Ursache für die Besonderheit wird
durchgängig davon abgeleitet, daß das Wohnen ein
Grundbedürfnis des Menschen sei, dessen Befriedi-
gung deshalb von besonderer Bedeutung ist, weil von
ihm erhebliche Wirkungen auf die Moral, Sittlichkeit
ete. einer Gesellschaft ausgehen. Aus diesem Komplex
ARCH+3 (1970) H. 11