Full text: ARCH+ : Studienhefte für architekturbezogene Umweltforschung und -planung (1970, Jg. 3, H. 9-11)

geben die Stadtplaner: War noch im Zeichen des Wie- 
deraufbaues Auflockerung und Durchgrünung der Städte 
modern, so haben sich in den letzten Jahren, im Zei- 
chen verschärfter Verwertungsschwierigkeiten, An- 
sichten über die Zweckmäßigkeit hoher Bebauungsdich- 
ten immer mehr durchgesetzt. Extremisten der Ver- 
dichtung haben bereits fensterlose Arbeits- und Wohn- 
räume propagiert, in denen durchscheinende Wände, 
künstliches Tageslicht und notfalls Farbfilmprojekto- 
ren den fehlenden Ausblick ersetzen sollen, 
Für die Angehörigen von Berufen, in denen man da- 
rauf angewiesen ist, ständig Informationen zu erhalten, 
sich in den zugehörigen Meinungs- und Richtungskämp- 
fen zu orientieren und die Wirkung eigener Ansichten 
zu testen, ist gesellschaftliche Isolation schädigend. 
Hieraus erklärt sich die Forderung der fungiblen 
Mittelschicht nach mehr Urbanität, nach Konzentra- 
tion der Kommunikationsgelegenheiten. Wenn die Stadt 
solches in viel zu geringem Umfang bietet, und wenn 
es jenseits der materiellen Möglichkeiten dieser Schicht 
liegt, die Stadtstruktur in der gewünschten Weise 
schnell und wirksam zu verbessern, bleibt nur noch 
der Rückzug auf kommensurable Objekte, auf die Mini- 
Öffentlichkeit von Häusern und Wohnungen, die nach 
diesen schichtenspezifischen Bedürfnissen organisier- 
bar sind im Sinne einer Informations- und Meinungs- 
börse. 
Aus keinem anderen Bedürfnis sind viele studentische 
Wohngemeinschaften gegründet worden, wenn ihnen 
auch zeitweilig eine eminent politische Funktion zuge- 
schrieben wurde. Noch im Herbst 1968 hieß es in 
einem Papier des Berliner SDS: ''Die Bedeutung der 
Wohngemeinschaften für die Arbeit des Verbandes be- 
steht darin, eine intensivere politische Diskussion 
zwischen den einzelnen Genossen und dem gesamten 
Verband zu ermöglichen; die Kommunikation wird er- 
höht; die Beteiligung und Mitgestaltung der Genossen 
an den Aktionen, die theoretischen Diskussionen wer- 
den zwischen wesentlich mehr Genossen geführt wer- 
den können. Schließlich werden damit jene Gruppen, 
die jetzt die SDS-Politik faktisch bestimmen, ersetzt 
durch den Verband selbst. Der ganze Verband wird 
ein großer ’Informeller Kader’ .'' Inzwischen hat sich 
dieses Organisationskonzept längst als eine Überbe- 
wertung der Wohnform und der Leistungsfähigkeit der 
Studentenbewegung herausgestellt. Die funktionierende 
Wohngemeinschaft kann zwar die Selbstidentifikation 
des politisch arbeitenden Individuums unterstützen, 
zur Entwicklung seiner Verhaltensnormen beitragen, 
Absicherung und Ermutigung gegenüber der Außenwelt 
sein; ob sie aber funktioniert, das ist von einer gan- 
zen Reihe persönlicher Faktoren abhängig: von der 
Zuverlässigkeit, der Disziplin, den Ordnungsgewohn- 
heiten, der Kooperationsbereitschaft, der gegenseiti- 
gen Sympathie, den gemeinsamen Interessen und Pro- 
jekten ihrer Mitglieder. 
Im kapitalistischen System, als Mittel zur 
Umwälzung desselben propagiert, hat das Kommune- 
konzept verschiedentlich große Verwirrung gestiftet, 
weil ihm die Gefahr innewohnt, als Konzept des grup- 
pen-privaten Rückzugs aus der kommerzialisierten 
Gesellschaft und ihrer zerstörten Umwelt praktiziert 
zu werden. Die Kommune wird jetzt aufgefaßt als 
Freiraum, der denjenigen, die ihn sich schaffen, aus- 
schließlich zur Verbesserung ihrer eigenen Lage dient: 
sie wird eine Variante des kleinbürgerlichen Escapis- 
mus, ein Fluchtmodell, und der Abwanderung ihrer 
Mitglieder in die Subkultur steht nichts mehr im Weg. 
In der seriöseren Sphäre der etablierten Reformgeister 
transformiert sich der drop out zum Genossenschaft- 
ler, gründet Cooperative, Initiativen, Institute und 
Aktionen. Wo der Bourgeois bewußt und zynisch eigene 
Interessen für solche der Gesamtgesellschaft ausgibt, 
erliegt der kleinbürgerliche Weltverbesserer einer 
Selbsttäuschung: er verwechselt die seinen mit jenen, 
unterlegt seinem Kampf ums ’ Überleben’ die ethische 
Motivation. 
Dabei stellen sich der proletarischen Bevölkerung, 
den breiten Massen der Lohnabhängigen, ganz andere 
Probleme. Ihre abhängige Situation, ihre Lebensweise 
wie ihr Arbeitstag haben sich seit der Jahrhundert- 
wende trotz immens gestiegener Arbeitsproduktivität 
nicht wesentlich geändert. Entsprechend unverändert 
sind auch ihre Wohnungen geblieben; daß es nicht durch- 
weg die von vor 100 Jahren sind, ist nur den Bombarde- 
ments und der konjunkturregulierenden Funktion des 
Sanierungsgeschäftes zu danken. Doch in den neuen 
Wohnungen, die man für das Proletariat baut, lebt es 
sich nicht besser, weil Arbeitgeber, Erzieher, Richter, 
Polizisten, Werbefritzen, Wohnungsgeber und das 
ganze System von Kontrolle und Bespitzelung, das sie 
in Gang gesetzt haben, immer noch für den entsprechen- 
den Zuschnitt sorgen. Die herrschende Klasse sieht 
sich gezwungen, auch auf dem Gebiet des Wohnungs- 
baus durch Anlage des Quartiers, Wohnform, Vor- 
schriften für die Mieter und Höhe der Mieten die Vo- 
raussetzungen für die Vereinzelung der Familien, für 
den Leistungsdruck aufrecht zu erhalten. 
Öffentlichkeit und Partizipation 
Für die bürgerlichen Sozialwissenschaftler hat sich 
die ’ Unwirtlichkeit unserer Städte’ und.die Trostlosig- 
keit des Wohnens als eine Frage nach dem Verhältnis 
von öffentlicher und privater Sphäre gestellt; sie mein- 
ten, in der modernen Großstadt einen spezifischen 
Verlust von ’ Urbanität’ registrieren zu können, die 
sich als eine gesellschaftliche Qualität nach Maßgabe 
des Verhältnisses von Öffentlichkeit und Privatheit 
in einzelnen Regionen und Wohnquartieren bestimmen 
lasse. 
Das städtebauliche Leitbild eines an bürgerlichen Ver- 
kehrsformen orientierten Urbanismus hat zunächst zur 
Kritik der Vereinzelung und Anonymisierung der In- 
dividuen wie der ’ totalen Privatheit’ der Kleinfamilie 
und der auf sie zugeschnittenen Dutzendwohnung ge- 
führt. Wiederherstellung von Öffentlichkeit im Bereich 
von Wohnen und Konsum stand seitdem auf dem Plan 
der Progressiven. Aufbrechen der Isolation und Pri- 
vatheit durch Kommunikationszentren, Gemeinschafts- 
einrichtungen und Kommunehäuser, also Teilhabe der 
Individuen an lokaler Öffentlichkeit stellt eine Ziel- 
richtung dieses Versuchs bürgerlicher Rekonstruktion 
dar; die andere Zielrichtung ergab sich. daraus un- 
mittelbar. Der Versuch, Öffentlichkeit für den Privat- 
mann zu erschließen, mündete in ein Interesse, an der 
Planung teilzuhaben, um das urbane Ideal künftig zu 
realisieren. 
ARCH-+ 3 (1970) H. 11
	        

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