Max Bense
FARB- UND FORM-SEMIOTIK
Das Problem der visuellen Sprache
Der Aufbau einer visuellen Semiotik als Inbegriff der
Probleme einer visuellen Sprache wird von dem wahrneh-
mungstheoretischen Faktum ausgehen müssen, daß keine
Farbe ohne Form und keine Form ohne Farbe (selbst wenn
es sich auch nur um die kontrastierende Farbe des be-
grenzenden Linienzugs handeln würde) wahrnehmbar ist.
Nur elementare oder komplexe Einheiten von Farbe und
Form sind Wahrnehmungsobjekte. Farbe-Form-Relationen
sind Basisrelationen der visuellen Wahrnehmungswelt,
Was in der visuellen Wahrnehmung gegeben ist, ist durch
Farbe-Form-Relationen gegeben. Die (ausschließlich)
visuelle Welt wird durch Farbe-Form-Relationen erkenn-
bar und beschreibbar. "Die Farbe vollends ist ihrem
Wesen nach an räumliche Ausdehnung und somit an räum-
liche Gestalt überhaupt gebunden", bemerkt P.F. Linke
in den "Grundfragen der Wahrnehmunaslehre" (1929, p.
248).
Farben wie Formen sind also extensionale Objekte. Die
Ausdehnung der Farbe ist formbestimmt. Die Ausdehnung
der Form ist durch die Kontur farbbestimmt. Analog zum
bekannten Inhärenzsatz der Logik, danach unsere Aussa-
gen über die Welt Aussagen über Prädikate sind, die
einem Gegenstand zukommen oder nicht zukommen, gibt
es einen Inhärenzsatz der visuellen Wahrnehmung, die
eine Form durch eine Farbe wahrnehmbar werden läßt
oder nicht wahrnehmbar werden läßt und umgekehrt.
(Die "rote Kugel" oder das "kugelrunde Rot", wie ein
Beispiel Linkes lautet.)
Bereits damit haben wir Farben und Formen als Zeichen,
als Elemente einer visuellen Semiotik eingeführt, deren
Dualität derjenigen entspricht, die uns in der verbalen
Semiotik zwischen Gegenstand und Eigenschaft, zwischen
Subjekt und Prädikat (einer Aussage) unterscheiden läßt.
Eine rein visuelle Semiotik (visuelle Sprache), die über
Formelementen (Formemen) und Farbelementen (Chro-
memen) aufgebaut ist, bezieht sich damit auf visuelle
Wahrnehmungseinheiten, auf Perzepteme, die im
visuellen Bereich nur als Farbe-Form-Relationen fungie-
ren. Ein Bild (der Malerei)oder eine Fotografie sind z.
B. solche Perzepte, die in Formelemente und Farb-
elemente zerlegt werden können, die abzählbar sind,
also mögliche Perzepteme konstituieren. Analog der von
Carnap eingeführten exakten logischen Sprache LP,
die also über i individuellen Gegenstandsnamen und p
Prädikaten aufgebaut wird, können wir nun von einer
exakten visuellen Sprache Vf sprechen, die über f Form-
elementen und c Farbelementen konstruierbar ist. Wie es
in der LP-Sprache p + I Atomsätze gibt, enthält die V£-
Sprache c . f Farbe-Form-Relationen, die wir als Per-
zepteme bezeichnet haben.
Unter der visuellen Dichte versteht man weiterhin die
Zahl der Farbe-Form-Relationen, also der Perzepteme
pro Zahl der Elemente des betrachteten Perzepts über-
haupt, also
Lot
DS: —
Diese visuelle Dichte D,, kann als semiotische Charakteri-
stik eines Perzepts, z.B. eines Bildes oder einer Graphik
angesehen werden.
Unter den Formelementen (Formemen) versteht man dabei
alle geometrisch-topologischen Elemente wie Punkte,
Geraden, Strecken, Bögen, geschlossene Kurven, Flä-
chen, Körper und dgl. Unter den Farbelementen (Chro-
memen) versteht man alle unterscheidbaren Farben über-
haupt (im Hinblick auf Ton, Helle und Sättigung) bzw.
also alle Töne einer Farbe wie etwa die Grautöne der
Grauskala.
Es ist darauf hinzuweisen, daß die so verstandenen Form-
elemente und Farbelemente insofern als objektiv aufgefaßt
werden, als sie pure außenweltliche Merkmale sind. Es
sind Fakten der Wahrnehmung; sie fungieren somit im
Kommunikationskanal der Wahrnehmung zwischen dem
Sender der Außenwelt und dem Empfänger des konstatie-
renden Bewußtseins, bilden aber im strengen Sinne weder
ein Realitätskriterium, noch sind sie wie z.B. ein Schmerz
ichbezogen, bewußtseinsabhängig. Sie sind lediglich
realitätsbezogen und gerade damit fungieren sie auf der
zweiten Seinsebene, auf der der Zeichen.
Sofern nun aber Farben und Formen, Chromeme und
Formeme wie Zeichen fungieren, müssen sie in triadische
Relationen und damit in Zeichenklassen (im Peirceschen
Sinne) eingehen.
Als triadische Relation muß die Farbe erstens Mittel sein,
ARCH+ 3 (1970) H. 9