Full text: ARCH+ : Studienhefte für architekturbezogene Umweltforschung und -planung (1970, Jg. 3, H. 9-11)

Max Bense 
FARB- UND FORM-SEMIOTIK 
Das Problem der visuellen Sprache 
Der Aufbau einer visuellen Semiotik als Inbegriff der 
Probleme einer visuellen Sprache wird von dem wahrneh- 
mungstheoretischen Faktum ausgehen müssen, daß keine 
Farbe ohne Form und keine Form ohne Farbe (selbst wenn 
es sich auch nur um die kontrastierende Farbe des be- 
grenzenden Linienzugs handeln würde) wahrnehmbar ist. 
Nur elementare oder komplexe Einheiten von Farbe und 
Form sind Wahrnehmungsobjekte. Farbe-Form-Relationen 
sind Basisrelationen der visuellen Wahrnehmungswelt, 
Was in der visuellen Wahrnehmung gegeben ist, ist durch 
Farbe-Form-Relationen gegeben. Die (ausschließlich) 
visuelle Welt wird durch Farbe-Form-Relationen erkenn- 
bar und beschreibbar. "Die Farbe vollends ist ihrem 
Wesen nach an räumliche Ausdehnung und somit an räum- 
liche Gestalt überhaupt gebunden", bemerkt P.F. Linke 
in den "Grundfragen der Wahrnehmunaslehre" (1929, p. 
248). 
Farben wie Formen sind also extensionale Objekte. Die 
Ausdehnung der Farbe ist formbestimmt. Die Ausdehnung 
der Form ist durch die Kontur farbbestimmt. Analog zum 
bekannten Inhärenzsatz der Logik, danach unsere Aussa- 
gen über die Welt Aussagen über Prädikate sind, die 
einem Gegenstand zukommen oder nicht zukommen, gibt 
es einen Inhärenzsatz der visuellen Wahrnehmung, die 
eine Form durch eine Farbe wahrnehmbar werden läßt 
oder nicht wahrnehmbar werden läßt und umgekehrt. 
(Die "rote Kugel" oder das "kugelrunde Rot", wie ein 
Beispiel Linkes lautet.) 
Bereits damit haben wir Farben und Formen als Zeichen, 
als Elemente einer visuellen Semiotik eingeführt, deren 
Dualität derjenigen entspricht, die uns in der verbalen 
Semiotik zwischen Gegenstand und Eigenschaft, zwischen 
Subjekt und Prädikat (einer Aussage) unterscheiden läßt. 
Eine rein visuelle Semiotik (visuelle Sprache), die über 
Formelementen (Formemen) und Farbelementen (Chro- 
memen) aufgebaut ist, bezieht sich damit auf visuelle 
Wahrnehmungseinheiten, auf Perzepteme, die im 
visuellen Bereich nur als Farbe-Form-Relationen fungie- 
ren. Ein Bild (der Malerei)oder eine Fotografie sind z. 
B. solche Perzepte, die in Formelemente und Farb- 
elemente zerlegt werden können, die abzählbar sind, 
also mögliche Perzepteme konstituieren. Analog der von 
Carnap eingeführten exakten logischen Sprache LP, 
die also über i individuellen Gegenstandsnamen und p 
Prädikaten aufgebaut wird, können wir nun von einer 
exakten visuellen Sprache Vf sprechen, die über f Form- 
elementen und c Farbelementen konstruierbar ist. Wie es 
in der LP-Sprache p + I Atomsätze gibt, enthält die V£- 
Sprache c . f Farbe-Form-Relationen, die wir als Per- 
zepteme bezeichnet haben. 
Unter der visuellen Dichte versteht man weiterhin die 
Zahl der Farbe-Form-Relationen, also der Perzepteme 
pro Zahl der Elemente des betrachteten Perzepts über- 
haupt, also 
Lot 
DS: — 
Diese visuelle Dichte D,, kann als semiotische Charakteri- 
stik eines Perzepts, z.B. eines Bildes oder einer Graphik 
angesehen werden. 
Unter den Formelementen (Formemen) versteht man dabei 
alle geometrisch-topologischen Elemente wie Punkte, 
Geraden, Strecken, Bögen, geschlossene Kurven, Flä- 
chen, Körper und dgl. Unter den Farbelementen (Chro- 
memen) versteht man alle unterscheidbaren Farben über- 
haupt (im Hinblick auf Ton, Helle und Sättigung) bzw. 
also alle Töne einer Farbe wie etwa die Grautöne der 
Grauskala. 
Es ist darauf hinzuweisen, daß die so verstandenen Form- 
elemente und Farbelemente insofern als objektiv aufgefaßt 
werden, als sie pure außenweltliche Merkmale sind. Es 
sind Fakten der Wahrnehmung; sie fungieren somit im 
Kommunikationskanal der Wahrnehmung zwischen dem 
Sender der Außenwelt und dem Empfänger des konstatie- 
renden Bewußtseins, bilden aber im strengen Sinne weder 
ein Realitätskriterium, noch sind sie wie z.B. ein Schmerz 
ichbezogen, bewußtseinsabhängig. Sie sind lediglich 
realitätsbezogen und gerade damit fungieren sie auf der 
zweiten Seinsebene, auf der der Zeichen. 
Sofern nun aber Farben und Formen, Chromeme und 
Formeme wie Zeichen fungieren, müssen sie in triadische 
Relationen und damit in Zeichenklassen (im Peirceschen 
Sinne) eingehen. 
Als triadische Relation muß die Farbe erstens Mittel sein, 
ARCH+ 3 (1970) H. 9
	        

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