woche, den 7-Stundentag in den Gruben, den 6-Stunden-
tag der Jugendlichen! Für den Kampf um höhere Löhne,
für Brot und Arbeit der Erwerbslosen, gegen die refor-
mistischen Streikbrecher und Gewerkschaftsspalter!
Gegen die von der Sozialdemokratie angedrohten Ver-
bote! Gegen die sozialfaschistische Koalitionspolitik,
gegen die Diktaturpläne der Bourgeoisie und ihrer
sozialdemokratischen Handlanger! (Zentralkomitee der
KPD, Die Losungen sind zum Teil gekürzt wiederge-
geben) Das Maikomitee der Berliner Arbeiterschaft
verkündet am 27. April, daß alle Betriebe den 1. Mai
auf der Straße begehen werden, trotz des Verbotes
durch Zörgiebel.
Im Juni hielt Ulbricht (38) auf dem Weddinger Partei-
tag eine Rede, in der er erklärte:
"Die Regierung, die Polizei, die Sozialdemokratie
versuchten, am 1. Mai mit Hilfe des Polizeiterrors die
revolutionäre Arbeiterschaft niederzuschlagen, und es
war notwendig und richtig, daß die Arbeitermassen
gegenüber dem Polizeiterror zu Selbstschutzmaßnahmen
übergegangen sind. Wir sind nicht der Meinung, daß
sich die Arbeitermassen von den Banden Zörgiebels
wie Hunde niederschießen lassen sollten. Wir haben klar
und eindeutig in allen unseren Dokumenten erklärt: Wir
halten die Situation für die Durchführung des bewaff-
neten Aufstandes nicht für reif. Aus diesem Grunde
haben wir keine Maßnahmen zur Organisierung des be-
waffneten Kampfes ergriffen. Aber wir waren der
Meinung - und die Entwicklung hat die Richtigkeit unse-
rer Taktik bestätigt -, daß es notwendig war, organi-
sierten Widerstand gegen den Polizeiterror zu leisten,
indem die Arbeiter organisiert die Straße behaupteten
und organisiert die Straßendemonstrationen durchführ-
ten" (39).
Klaus Neukrantz (40) vermittelt das soziale Milieu,
in dem die Kümpfe stattfanden:
- Die Personalisierung des Viertels im Lied vom Ro-
ten Wedding: "Roter Wedding'' grüßt euch, Genossen,
... der rote Wedding vergiBt es nicht ...'" (Text
Weinert, Musik Eisler)
Die Identifizierung mit dem Viertel: "sie kannten je-
den Winkel, jeden Hof, jedes Loch ..." Trotz der
unmenschlichen Wohnverhältnisse (41) ("das Bett-
zeug roch feucht und muffig wie die ganze Wohnung",
die "Wohnung" besteht aus 1-2 Rüumen! "Treppen,
Flure, Stuben, Quer- und Hinterhüuser, das war alles
unerträglich dicht zusammen. Kaum Wände und Luft
dazwischen. Der Geruch der Menschen drang durch
die Wände, Spalten und Verschläge'', "in den Ab-
wässern der Fabriken badeten im Sommer die Kinder"),
trotz dieser Wohnverhältnisse, die als Ursachen
vieler Konflikte und Krankheiten erkannt wurden,
überwog eindeutig die Identifikation mit dem Viertel.
Sie ist zu verstehen aus der Solidarität gegenüber
dem Klassenfeind, für den der Wedding identisch war
mit "dem roten Mob, dem Proletentum, dem roten
Weddinggesindel''. Aus ihrer Sicht war dieser Stadt-
teil ein rätselhaftes, undurchdringliches, unkontrol-
lierbares Gewirr von "hohen dunklen Hüuserzeilen',
hinter deren "Fensterscheiben der verhaBte, geführ-
liche Gegner saB"; deren "Gassen, Wände, Dächer
und die ganze unheimliche Nacht auf einmal lebendig"
werden konnte usw.
- Mit der Identifikation verbunden ist die Kommunika-
ARCH+ 15 (1971-3)
tion im Viertel: "Jeder wußte hier Bescheid über die
Sorgen des anderen." Die dichte Bebauung und dünnen
Wände, das allgemeine Elend bedingten diese'"'Kom-
munikation" ebenso wie der morgendliche Tratsch im
Tante-Emma-Laden oder die Diskussion an der Theke.
(Heute versuchen Soziologen und Architekten, diese
aus dem materiellen Elend entstandene Kommunika-
tion für eine fiktive "Óffentlichkeit" wieder geltend
zu machen.)
Diese Merkmale des sozialen Mileus bildeten ein unter-
stützendes Moment der Stadtteilkämpfe, die im An-
schluß an die Demonstration geführt wurden. Wie oben
erwähnt, wurde der 1. Mai von der KPD geplant und
von den sog. Straßenzellen organisiert.
Über die Rolle der Straßenzellen innerhalb der KP im
Kommentar zu Neukrantz’ Buch:
"Die ersten Kapitel des Romans bis zum Beginn der
Maidemonstration illustrieren die tägliche politische
Arbeit der Zelle. Mieteragitation und Verhinderung
einer Zwangsexmittierung, regelmäßiges Treffen ...;
ein Kader erklärt die Linie der Partei und diskutiert
ihre Anwendung bei der Maidemonstration mit den Zel-
lenmitgliedern; die Zelle vertreibt die Häuserblock-
zeitung ... und organisiert Zettelklebeaktionen. Sym-
pathisanten werden von Zellenmitgliedern registriert
und Polizeispitzel entdeckt. Diese Tätigkeiten der Zelle
halten sich in etwa dem Rahmen, den ein Diskussions-
beitrag von M.G. und W. Ulbricht über die Aufgaben
der StraBenzellen beschreibt" (42).
Danach ist die Straßenzelle eine Ergänzung der Betriebs-
zelle und erfaßt die in den Fabriken nicht Beschäftig-
ten: "... Bevôlkerungsschichten, die der Kapitalismus
proletarisiert hat, Handwerker, Hausfrauen usw.'' und:
"Der Betrieb stellt eine natürliche Organisation der
Arbeiter dar und die dort zusammengeballten Arbeiter-
massen stehen im allgemeinen unter den gleichen Aus-
beutungsverhältnissen, so daß ihre Bearbeitung und das
konkrete Anknüpfen an Tagesfragen einheitlicher und
leichter geschehen kann. Im Wohngebiet dagegen ist die
kommunistische Arbeit komplizierter infolge der gro-
ßen individuellen Verschiedenheit der Einzelbeschäftig-
ten, Mittelschichten, der sehr konservativ eingestellten
Hausfrauen usw.'' Die Partei mußte sich also auf Grund-
einheiten stützen, die sie selbst nicht für die entschei-
dende Basis hielt, und war wegen der zunehmenden Ent-
lassung gerade der kommunistischen Arbeiter während
der Weltwirtschaftskrise in immer stärkerem Maße auf
die Straßenzelle angewiesen (43).
Aus den vorangegangenen Dokumenten ist die Frage zu
stellen: Ist das proletarische Viertel selbst, wie auch
die dort verwurzelte Stadtteilagitation, eine historisch
überholte Existenzform, auf die wir heute unter den
Aspekten der Klassenstruktur, der Wohnortbedingungen
und des Klassenbewußtseins in den Versuchen der Stadt-
teilarbeit zurückgreifen können?
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