4. Anmerkungen zum Nationalsozialismus und zum
"Wiederaufbau": Die Veründerung der Reproduktions-
bedingungen und des Klassenbewußtseins. Ländliche
Kleinsiedlung und kleinbürgerliches Volksbewußtsein.
Ununterbrochene Eigentumsideologie und Sozialpartner-
schaft
4.1 Den Zielen der nationalsozialistischen Industrie-
standort- und Wohnungsplanung entsprach es nicht,
daß weiterhin Arbeiterwohnungen in der Stadt gebaut
wurden. Verschleiert durch die Blut- und Boden-Ideo-
logie forderte z.B. F. Seldte (44), daß die ländliche
Kleinsiedlung als Lebensform für den deutschen Arbei-
ter zu gelten habe. Sie schütze ihn z.B. "bei vorüber-
gehender Arbeitslosigkeit vor den schlimmsten wirt-
schaftlichen Sorgen" durch Anpflanzung und Verzehr
von eigenem Gemüse (Kartoffelanbau als Krisenmilde-
rung!). "Erhebliche Bedeutung kommt der Kleinsied-
lung aber auch innerhalb der 4-Jahresplan- und Rü-
stungsbauten zu. Hier ist die Kleinsiedlung berufen...,
der Gefahr der erneuten Zusammenballung der Indu-
striebevólkerung entgegenzuwirken. Gleichzeitig ... ist
(sie) geeignet, eine Stammarbeiterschaft zu schaffen,
die auch bei vorübergehender Beschrünkung der Be-
schüftigung gesichert und bodenstándig bleibt."
4.2 Der Faschismus versuchte mit Gewalt, die revo-
lutionären Arbeiterorganisationen zu zerstören und
deren Reproduktionsbedingungen, die "geführlichen
proletarischen Viertel" aufzulósen (dieselbe Linie
läßt sich fortführen bis Preusker und Lücke). Mit allen
Mitteln versuchen Ideologen und Werbemanager, das
noch vorhandene Klassenbewuftsein durch ein klein-
bürgerliches "Volksbewufitsein" zu ersetzen. Da "jeder
einzelne im Sinne der Volksgemeinschaft auf seinen
hóchsten Leistungswert gebracht werden mu" (45)
- die Sprache ist hier deutlich genug -, sei dafür zu
sorgen, daB sich die VersüBung der Ausbeutung auch
im Wohnbereich niederschlage: Neue Bedürfnisse eines
bürgerlich-"gehobenen Lebensanspruchs'' werden dann
zur wirksamen Ware, wenn sie "nach politisch bedingten
Richtlinien durchgeführt, ... nach einem genauen Plan
gelenkt werden! kónnen, und zwar durch vereinheit-
lichte Produktion und Werbung und durch "Gesetze, die
für das Wohnen des deutschen Menschen für die Zukunft
zu gelten haben".
4.3 Nach der Liquidierung des Nationalsozialismus
bleibt die Wohnungswirtschaft trotz der katastrophalen
Wohnungsnot profitorientiert und schließt in ihren ideo-
logischen Formen nahtlos an die Tradition der voran-
gegangenen Epoche an.
Neben der elementaren Reproduktion von Arbeitskraft,
die gewisse Grenzen nicht unterschreiten darf, dient
der Wohnungsbau zur Bindung an immobiles Eigentum.
Ernst Kuss, seit 1938 im Vorstand der Duisburger
Kupferhütte, entwickelte 1946 einen Plan zur "Befrie-
dung der Arbeiter". Er schrieb dazu: Durch Eigentum,
vor allem ein Eigenheim, wandeln sich in erstaunli-
cher Weise die Ansichten der vorher Besitzlosen. Ein
sich so aus der Arbeiterschaft entwickelnder, befrie-
deter Mittelstand, der die starken Krüfte des Volks-
körpers umfaßt, ist der beste Schutz der Öffentlichkeit
gegen die zersetzenden Kräfte des östlichen Kollekti-
vismus...
3(.
Die Bedingungen, denen sich ein Anwärter auf ein
Werks-Eigenheim unterwerfen muß, sehen nach 5jäh-
riger Probezeit eine Prüfung auf Würdigkeit und voll-
zogene Anpassung vor; eine Kündigung des Arbeitsver-
hältnisses impliziert den Verlust des gewünschten
Heimes. Auch im Wohnungsbaugesetz ist diese Tendenz
verankert.
Wohnungsbaugesetz $ 1 Abs. 2: Die Förderung des Woh-
nungsbaus hat das Ziel, die Wohnungsnot, namentlich
auch der Wohnungssuchenden mit geringem Einkommen,
zu beseitigen und zugleich weite Kreise des Volkes durch
Bildung von Einzeleigentum, besonders in Form von
Familienheimen, mit dem Grund und Boden zu verbin-
den.
Jedoch ist der Versuch der Bindung an immobiles Eigen-
tum nur ein Teil einer umfassenden Befriedungs- und
Disziplinierungsstrategie, mit der der unter anglo-
amerikanischer Geburtshilfe rekonsolidierte west-
deutsche Kapitalismus die formierte Gesellschaft auf-
zubauen beginnt. Durch einzelne Verbesserungen der
Lage der Arbeiter sollen große Teile der Arbeiterklasse
neben den bereits korrumpierten Schichten über die
Verschlechterung ihrer Gesamtlage hinweggetäuscht
werden.
4.4 In diesem Zusammenhang scheint es uns wichtig,
auf die Kampfaktionen der Arbeiter in dieser Epoche
einzugehen und im folgenden die Gründe näher zu be-
trachten. Obwohl sich die Gegensätze objektiv zuspit-
zen, herrscht praktisch Arbeitsfriede (46). Die Zahl
der Streikaktionen zwischen 1949 und 1956 gleichen
denen aus der Zeit des faschistischen Terrors. In der
Zeit von 1949 bis 1953 streikten nur rund 1/2 % der
deutschen Arbeiter, 1954 und 1955 in einem relatiyen
Aufschwung, sind es maximal 3 1/2 %. Nach 1956 bis
1963 kann von Arbeitskampf nicht mehr die Rede sein.
Die eine Seite der Gründe dieser Situation praktischen
Arbeitsfriedens skizziert 1953 ein Artikel im Gewerk-
schaftsorgan ’Der Holzarbeiter’ :
"Wir können Hunderte von Fällen anführen, daß auch
in der heutigen Staats- und Gesellschaftsordnung demo-
kratische Rechte, wie sie von der Bundestagstribüne
verkündet werden, für den Arbeitnehmer keine Gültig-
keit haben, weil die wirtschaftliche Abhängigkeit vom
Unternehmer so stark ist, daß der Arbeiter gar nicht
wagt, diese Rechte für sich in Anspruch zu nehmen...
der Unternehmer (macht) ihnen deutlich, ... daB er
jeden entlassen will, von dem er weiß, daß er Mitglied
... einer Gewerkschaft ist."
Bei einer Arbeitslosenziffer von 10 % 1950 und konti-
nuierlich abnehmend 7 % 1954 hat der Verlust des Ar-
beitsplatzes erhebliche Konsequenzen, (Auf die Funk-
tion der industriellen Reservearmee bzw. ihr Vorhan-
densein im westdeutschen Kapitalismus wird in II und
Ill eingegangen.)
Der Druck am Arbeitsplatz selbst wird enorm gestei-
gert (47). So ist vor allem in den vom US-Kapital be-
herrschten monopolisierten Industriezweigen das Pro-
duktionsergebnis je Arbeitsstunde 1954 zwischen 20
und 50 % gegenüber 1936 gestiegen durch Intensivierung
des Arbeitsprozesses. An der ungeheuerlichen Steige-
rung der Betriebsunfallrate und der Berufskrankheiten
ist u.a. das Ausmaß dieser Arbeitshetze abzulesen.
ARCH+ 15 (1971-3)