Full text: ARCH+ : Studienhefte für Planungspraxis und Planungstheorie (ab H. 28: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen) (1975, Jg. 7, H. 25-28)

ARCH+ 7. Jg. (1975) H. 25 
künstlich; man möchte sagen, mit Stolz künstlich; aber auch 
in den Kolonien, in denen es Dorfauen gab, bestehen die 
Neugründungen auf ihrer Unabhängigkeit. Sie kehren der 
Dorfaue sozusagen den Rücken. Das ist deutlich in Lichter- 
felde, aber auch in Wilmersdorf: Carstennsch ist dort die 
Gegenüberstellung des Prager- und des Nikolsburger Platzes 
zu beiden Seiten der Kaiserallee. Die Dorfaue — Wilhelms- 
aue — liegt vom Vorort weit entfernt. Symmetrische Figuren 
aber, wie die Symmetrie der beiden Schmuckplätze in Wil- 
mersdorf in Bezug auf die Kaiserallee sind für die Gründungen 
Carstenns typisch. Man kann an ihnen die Lage dieser alten 
Kolonien im heutigen Straßenplan ausfindig machen: in 
Friedenau ist es die ovale und radiale Anlage der Straßen um 
den Friedrich-Wilhelm-Platz, die erst jüngst durch einen neu- 
en Verkehrszug gestört wurde, in Lichterfelde ähnliche Kon- 
figurationen in Lichterfelde Ost jenseits der Anhalter Bahn. 
Sieht man die Karte an, so kann man solche Konfigurationen 
unschwer im Gebiet beider Ortsteile entdecken. 
Wichtiger aber als der figürliche Städtebau der Carstennschen 
Gründungen ist für uns der Charakter ihrer Straßen und Gär- 
ten. Lichterfelde unterlag der Bauordnung für das Bauen 
auf dem platten Lande von 1872, welche sehr tiefe Bau- 
fluchten, 15, sogar 17 Meter vorschrieb. Diese Bauordnung 
kam Carstenns Absichten sehr gelegen. Geht man durch die 
Straßen im eigentlichen, Carstennschen Lichterfelde, so 
fällt deren Weiträumigkeit auf . Die Straße selbst war breit 
genug. Durch die tiefen Vorgärten aber wurde visuell ihre 
Breite verdreifacht. Hinter dem Hause bliebt meist nicht 
mehr übrig, als ein kleiner Gartenhof, in dem Hühnerställe 
und Geräteschuppen standen. Der eigentliche Garten war 
der Vorgarten, also dieser parkartig weiträumige Straßen- 
raum. Über ihn hinweg grüßten die Häuser einander, klei- 
ne Häuser meist im Charakter der Berliner Schule, also 
späte Beispiele der Schule Schinkels. Das waren nicht Villen 
im Sinne der großbürgerlichen Villa der Jahrhundertwende, 
noch weniger waren es Landhäuser, wie die Zeit nach 1905 
sie in anderen Vororten baute: In Lichterfelde gibt es de- 
ren sehr wenige. Das Raumprogramm des alten Lichterfelder 
Hauses war recht eigentlich das der Stadtwohnung. Man 
kann sagen, das waren Stadtwohnungen in zwei Etagen im 
Grünen, im Park gelegen. Stellenweise gab es sogar geschlos- 
sene Bebauung: Miethäuser bis zu drei Geschossen, nicht 
allerdings im eigentlichen Lichterfelde, also in den Straßen 
nahe dem Bahnhof Lichterfelde Ost: Wilhelmstraße, Jung- 
fernstieg, Bahnhofstraße, Mittelstraße. Reihenhäuser gab 
es dort allerdings. Wir haben sie ja bereits erwähnt. Diese 
weiträumige Straße verbunden mit sehr großen, runden 
Schmuckplätzen mit alten Bäumen machen recht eigentlich 
den Cahrakter des alten Lichterfelde aus. Dazu kamen Parks 
und endlich der kleine Urwald an der Beeke — den Teltow- 
kanal gab es ja noch nicht — mit seinen Pfaden, Uferwegen, 
Teichen. 
Übrigens wurde die Bauflucht von 15 Metern nicht überall 
eingehalten. Man ging stellenweise bis auf 10 Meter an die 
Straße heran; die Reihenhäuser in der Mittelstraße stehen 
ziemlich dicht an der Straße und hier ist, wie in England, 
der Hintergarten der eigentliche Garten. Der ganze Ort war 
also alles andere als eintönig: Der Straßenraum erweiterte 
und verengte sich. Die Bahnhofstraße war eng in der Nähe 
des Bahnhofs und wurde weit im eigentlichen Wohngebiet. 
Ich brauche kaum zu erwähnen, daß das spekulative Bauen 
der Gegenwart diese Differenzierungen zerstört und die klei- 
nen Einzelhäuser zusehends durch geschlossene Bebauung er- 
setzt. Lichterfelde besitzt zwar dort einen gewissen Schutz, 
wo die von Carstenn festgelegte Bedingung noch gilt, daß kei: 
ner sein Haus abreißen darf, ohne daß das Einverständnis der 
Anwohner des ganzen Blockes eingeholt wird. Wie effektiv 
dieser Schutz ist, kann ich nicht beurteilen. Das Haus Bahn- 
hofstraße 13 wurde im vorigen Jahre abgerissen — und wird 
durch geschlossene Bebauung 10 Meter von der Straße ersetzt 
und ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß durch diesen Ein- 
griff der Charakter einer der letzten noch einigermaßen Car- 
stennschen Straßen entscheidend gestört worden ist — um es 
milde auszudrücken. 
Bezeichnend war in diesem Falle die Auskunft, welche das 
Stadtplanungsamt erteilt hat: „Baustufe II/3 nach Baunutzungs- 
plan beinhaltet automatisch die Pflicht, geschlossen bauen zu 
sollen.” Und: „Hinsichtlich der Erhaltung des Charakters der 
Bahnhofstraße wurde — soweit die gesetzlichen Möglichkeiten 
dazu vorlagen — alles Denkbare getan.” Aber: „Neben den ge- 
setzlichen Anforderungen muß es erlaubt sein, städtebauliche 
Zielvorstellungen — auch unter Berücksichtigung von bauge- 
schichtlichen und stadtpflegerischen Gesichtspunkten — zur 
Grundlage von Gemeindevorstellungen zu machen.” Endlich: 
„Stadtplanung könnte auch sein: wesentliche Veränderung 
zum Nutzen der Bevölkerung beitragen zu wollen.” Das letzte 
Argument aber war, daß das kleine Haus nicht unter Denkmal- 
schutz stand, daß es auch in Professor Poseners übrigens recht- 
lich völlig unverbindlicher Liste nicht enthalten ist, und daß 
es sich nicht in der Nähe eines Baudenkmals befindet. 
Natürlich stand das Häuschen nicht unter Denkmalschutz, und 
ebenso natürlich war es in unseren Listen nicht enthalten. Hier 
ist nicht das Haus das Baudenkmal, sondern der bauliche Zu- 
sammenhang, den an Hand recht unzulänglicher Bilder und 
Beschreibungen darzustellen ich mich eben bemüht habe. Dieser 
ist das historische Erbe; und ehe man sich entschließt, durch 
seine, wie hieß es doch? „wesentliche Veränderung zum Nutzen 
der Bevölkerung beitragen zu wollen”, sollte man den Landes- 
konservator konsultieren, die dort Lebenden und, ich meine, 
auch solche, die zwar dort nicht wohnen, denen aber der Cha- 
rakter der Stadt in allen ihren Teilen am Herzen liegt. In wel- 
chem Maße das in diesem Falle geschehen ist, entzieht sich 
meiner Kenntnis. Ich weiß, daß der Landeskonservator sich 
eingeschaltet hat, daß gewisse Dienststellen im Bezirk nicht 
glücklich über den Abriß gewesen sind, endlich, daß ein Bewoh- 
ner der Bahnhofstraße, der Architekt Horst Hackel, eine kleine 
Bürgerinitiative ins Leben gerufen hat. Wenn ich also hier eine 
Amtsstelle zitiert habe — und in ihrer authentischen Sprache — 
so habe ich nicht beabsichtigt, diese Amtsstelle zu kritisieren. 
Sie hat „soweit die gesetzlichen Möglichkeiten dazu vorlagen” 
vielleicht nicht „alles Denkbare”” getan, denn wer könnte das 
je von seinem Tun behaupten? Wohl aber das amtlich Ange-
	        

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