ARCH+ 7. Jg. (1975) H. 25
messene. Die gesetzlichen Grundlagen gilt es zu schaffen —
und das öffentliche Bewußtsein auf diese Frage hinzuweisen.
Zu beidem könnte ein Gremium bestehend aus Persönlich-
keiten des öffentlichen Lebens etwas beitragen, welches den
Landeskonservator unterstützt, seine Bemühungen dem Publi.
kum näher bringt und ihn gegebenenfalls auch berät.
Werfen wir nach diesem Exkurs in die Gegenwart noch einen
raschen Blick auf das, was aus Lichterfelde nach Carstenn
geworden ist. Denn natürlich hat es sich verändert, wenn
man auch sagen darf, daß der Kern der Gründung sich durch
das Zeitalter der Kriege und Umwälzungen hindurch erstaun-
lich rein erhalten hat. Aber Lichterfelde als Ganzes hat sich
verändert. Um 1900 besaß der Ort — Ost und West zusammen
bereits 80 000 Einwohner, und es gab in ihm gute und weni-
ger gute Wohngegenden, besonders seit an der Chausseestraße-
Hindenburgdamm-Mietskasernen gebaut wurden. Die Bewoh-
ner. dieser Straße waren für uns keine echten Lichterfelder.
Dort wohnten die „Straßenjungen”, die auf die Gemeinde-
schule gingen oder bestenfalls auf die in der Nähe gelegene
Oberrealschule, während die jeunesse doree in eines der bei-
den Gymnasien geschickt wurde, oder ins Lyceum. Eine
recht gute Wohngegend, aber neuer, mit größeren Häusern,
und zu nahe an den Zehlendorfer Feldern gelegen, entwickel
te sich seit etwa 1895 in Lichterfelde West, nahe der Kadet-
tenanstalt an der Karlstraße, Bellevuestraße, Ringstraße.
Auch sie wurde bald lichterfeldisch: ein unter riesigen Bäu-
men ruhendes Gartenland.
Will man sich von den Gärten in diesem Vorort eine Vorstel-
lung machen, so denkt man immer zuerst an die vielen alten
Bäume, die es dort gab. Schon von Marienthal, der Kolonie
im Park des Schlosses Wandsbeck wurde — widerstrebend —
gerühmt, daß ihr Gründer viele schöne Parkbäume in den
Gärten habe stehen lassen. In Lichterfelde wurden zweifel-
los Bäume erhalten und Bäume gepflanzt, und der Ort wurde
von Jahr zu Jahr dunkler. Die Gärten waren alle landschaft-
lich angelegt, die großen wie die kleinen, das heißt, sie hatten
geschwungene Wege. In den Vorgärten der kleineren Grund-
stücke standen Glaskugeln, Gartenzwerge und Rehe aus Gips,
es gab Gartenlauben und einige Pergolen aus gebogenen Eisen-
rohren, die schöne Pflanzengewölbe darstellten; in einigen
großen Gärten gab es im hinteren, von der Straße abgewand-
ten Bereich gelegentlich Treibhäuser, Häuser für den Garten-
betrieb, sogar Remisen und Stallungen. Die letzteren waren
selten.
Von den Häusern aus der Zeit der Gründung sind nicht mehr
sehr viele übrig: Gegen Ende des Jahrhunderts wurden sie
zusehends durch Fachwerkhäuser oder durch solche Lichter-
felder Sonderbarkeiten ergänzt wie die Burgen in der Pau-
linenstraße, von denen schon die Rede war. Ihr Architekt ist
Gustav Lilienthal, der Bruder des ersten Gleitfliegers Otto
Lilienthal. Gustav nahm an seines Bruders aerodynamischen
Experimenten teil, gemeinsam erfanden die Brüder eine
sehr moderne Form der Luftheizung; — sie wurde in die
Burgen eingebaut! — den Anker-Steinbaukasten und eine
Art Mecano-Baukasten. Gustav hat sich dann nach Ottos Tode
C‘
aktiv als Sozialreformer im Gefolge Franz Oppenheimers (eines
anderen Lichterfelders) betätigt und ist die führende Gestalt
bei der Gründung der genossenschaftlichen Siedlung Freie
Scholle in Waidmannslust. Ich weiß nicht, ob man es begründen
kann, wenn man diese Mischung von Romantik, Kauzigkeit,
Erfindungsgabe, Mut und Fortschrittsglauben lichterfeldisch
nennt; als alter Lichterfelder bin ich geneigt, es zu tun. Und
das scheint nicht unvernünftig, wenn man sich diese künstliche
Kleinstadt am Rande der Großstadt, aber fast unberührt von
ihren Problemen wie von ihren Stimulantiies ins Gedächtnis
zurückruft. Dazu gehört selbstverständlich eine trotz der er-
wähnten Abstufungen im großen und ganzen homogene, bür-
gerliche Einwohnerschaft, begleitet von den von ihr abhängi-
gen Existenzen der Dienstmädchen, Gärtnersleute, kleinen
Ladenbesitzer, Schuhmacher, Sattler, Schneider, besonders
für Uniformen, etc. Obwohl unser „Portier’””, seines Zeichens
Tischler, jeden Morgen in aller Herrgottsfrühe in die Frank-
furter Allee zur Arbeit führ, wußten wir Kinder reicher Leute
nichts von Arbeitern; vielleicht weil er in aller Herrgottsfrühe
wegfuhr; und obwohl am Schönower Stichkanal, in dem wir
unsere Molche fingen, eine Spinnerei stand und bald auch die
optische Fabrik von Görz, wußten wir eigentlich nicht, was
eine Fabrik war. Wir führten ein beschränktes und geschütztes
Leben, das Leben von Gymnasiasten. Und da uns alles Not-
wendige ins Haus geliefert wurde, da sogar die Waschfrau, die
Plätterin, die Näherin, ja, der Schuhmacher ins Haus kamen,
so brauchten wir nicht in die Stadt zu fahren; und wir fuhren
nicht in die Stadt.
Ob Carstenn die Selbständigkeit seiner Kolonie und ihren Ab-
schluß von der Stadt, von der sie doch abhing, in dieser stren-
gen Form beabsichtigt hat, wer kann das sagen? Es ist nicht
unwahrscheinlich. Auf jeden Fall: So hat sie sich entwickelt.
Sie erreichte eine Individualität, die weiterwirkte und Genera-
tionen in einem Lichterfeldertum erhielt, das ihrer Zeit bereits
nicht mehr entsprach. Ihr Unwissen der wirklichen gesellschaft:
lichen Verhältnisse wurde durch einen gewissen Hang zum
Idealen ausgeglichen: Jugendbewegung, Landhausideologie,
später allerdings auch anderes, fanden in Lichterfelde einen
günstigen Boden. Es ist wohl kaum gerechtfertigt, Carstenn,
den Gründer für alle Tugenden und Mängel Lichterfeldes, für
seine frische Luft wie seinen Mief verantwortlich zu machen:
immerhin: er war der Gründer.
Zum Beispiel Julius Posener
Merkmal vieler fortschrittlicher Darstellungen von wissenschaft-
lichen Problemen ist heutzutage das nahezu vollständige Ver-
schwinden des Autors hinter seinen Überlegungen.
Anders verfährt Julius Posener.
Er bezieht sich selbst, seine persönliche Erfahrung und subjekti-
ven Empfindungen stark in seine Themen, die ihm allerdings von
den gesellschaftlichen Verhältnissen diktiert werden, mit ein.
Dieses Verfahren ist in verschiedener Hinsicht ungewöhnlich. Zu-
nächst fällt es aus dem Rahmen anderer hier publizierter Versuche
den Verhältnissen der Bau- und Stadtplanung so objektiv wie mög-