Full text: ARCH+ : Studienhefte für Planungspraxis und Planungstheorie (ab H. 28: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen) (1975, Jg. 7, H. 25-28)

ARCH+ 7. Jg. (1975) H. 25 
Vororte; in beidem ging sie den anderen deutschen Städten 
voran, und sie blieb die bedeutendste: sie wurde nicht über- 
flügelt. 
Julius Posener 
VORORTGRÜNDUNGEN 
Wer Berlin in den ersten drei Jahrzehnten dieses J ahrhunderts 
gekannt hat,erinnert sich einer bipolaren Stadt: innerhalb der 
modernen Stadtmauer, welche die Ringbahn darstellt, lag das, 
was Hegemann das steinerne Berlin genannt hat: das Berlin 
der Mietskaserne; er sagte: die größte Mietskasernenstadt der 
Welt! Außerhalb der Ringbahn lag ein völlig anderes Berlin: 
zunächst der Gürtel der Schrebergärten, durchsetzt übrigens 
von Fabrikgeländen an bestimmten bevorzugten Standorten 
dieses inneren Ringes, die sich im Nordwesten, im Norden, 
Osten und Süden befanden; im Westen und Südwesten gab es 
nur an vereinzelten Stellen und viel weiter draußen Industrie: 
bei Spandau, bei Teltow, bei Potsdam (Nowawes). Dort, im 
Westen und Südwesten, um den Grunewald herum, gab es 
nicht einmal viel vom Schrebergartenring; vielmehr schloß 
sich hier unmittelbar an die Stadt der Mietskasernen ein wei- 
tes Gartengebiet an; und wenn Hegemann Berlin die größte 
Mietskasernenstadt der Welt genannt hat, so hätte er es eben- 
sogut die größte Villenstadt der Welt nennen dürfen; denn 
nicht nur erstreckten sich die Südwestvororte bis nach Pots- 
dam; es gab einen zweiten bedeutenden Zipfel nach Südosten, 
von Karlshorst bis zu den Dahmeseen; und es gab einzelne 
Kolonien wie Frohnau im Norden; auch sie bedeckten erheb- 
liche Flächen außerhalb der Stadt. Wir nannten die Stadt 
bipolar, und sie war es, mit geringen Einschränkungen durch- 
aus: die Einschränkungen beziehen sich auf die Villen am 
Südrande des Tiergartens und an die vereinzelnten Gruppen 
von Mietshäusern in den alten und neuen Ortskernen der 
Vororte. Sie waren nicht bedeutend genug, den Eindruck der 
schroffen Teilung des bebauten Gebietes in die Zone der ho- 
hen geschlossenen und die der niedrigen offenen Bebauung 
zu modifizieren. Wir müssen das oben gegebene Bild nur inso- 
fern verbessern, als die Ringbahn als Stadtmauer der Mietska- 
sernenstadt zwar auf weite Strecken wirklich diese Grenze 
bildete. Die Stadt besaß aber damals bereits einige große Pro- 
tuberanzen an den Ausfallstraßen. Mit diesen Korrekturen 
stimmt das Bild; und es ist berlinisch; weder Paris, noch Lon- 
don, noch die anderen deutschen Großstädte sind so entschie- 
den bipolar strukturiert; und wenn man diese Form in den 
anderen deutschen Großstädten wiederfindet, in Hamburg be- 
sonders, so hatte Hegemann gleichwohl recht: Berlin war die 
größte Mietskasernenstadt — und mithin die größte Stadt der 
Auf die Bedingungen, welche seit den Tagen Schinkels dem 
Bau der Mietskaserne in Berlin Vorschub geleistet haben, kön- 
nen wir hier nicht eingehen. Um 1860 war sie die vorherrschen- 
de Form des Wohnbaues in Berlin. Der Plan, den James Hob- 
recht für eine Erweiterung der Residenzstadt zur Großstadt 
festgelegt hatte, bezog sich auf diese Form der Bebauung und 
sicherte ihr das Monopol: In Hobrechts großen Baublöcken 
siedelten sich die Mietskasernen mit ihren drei oder vier Hin- 
terhöfen an. Bereits 1870 hat Ernst Bruch den Plan eben da- 
rum kritisiert, weil er dieser barbarischen Wohnform Vorschub 
leistete. Die Vorortentwicklung, von der ich Ihnen heute 
abend etwas erzählen will, ist das Korrelat zur Mietskasernen- 
stadt. Sie ist gekennzeichnet durch Ortsgründungen weit 
draußen vor der Stadt. Wie in anderen Städten — Hamburg, 
Frankfurt — entwickelte sich auch in Berlin das Wohnen in 
Einfamilienhäusern zunächst am Stadtrand — also etwa am 
Südrand und am Westrand des Tiergartens — und an einigen 
der Ausfallstraßen, besonders natürlich im Westen und Süd- 
westen. Solche Siedlungen sind immer in Gefahr, von der 
Stadt eingeholt zu werden, besonders an den großen Stras- 
sen, wo das Einfamilienhaus unweigerlich dem Mietshaus 
weichen muß. Villen halten sich dann allenfalls in abgelege- 
nen „Taschen” zwischen den großen Verkehrswegen, wer- 
den aber auch dort mit der Zeit absorbiert. Anders verhält 
es sich mit jenen Gründungen, die wir erwähnten, den Kolo- 
nien, wie man sie nannte, die weit außerhalb der Stadt ange- 
legt wurden: ihre Gründer konnten hoffen, daß ihnen ein er- 
heblich längeres, in ihrer Sicht ein unbeschränkt langes 
Eigenleben als Villenkolonie beschieden sein würde, voraus- 
gesetzt sie wurden abseits der Hauptstraßen angelegt oder 
wenn an der Straße, dann so weit vom Stadtrand entfernt, 
daß nach menschlicher Voraussicht die große Straße dort 
draußen ländlich-vorörtlich bleiben würde. Die Berliner 
Vorortgründer haben eine erstaunlich gute Voraussicht be- 
wiesen; daß selbst sie in den sechziger Jahren des vorigen 
Jahrhunderts mit der gegenwärtigen Ausbreitung der Stadt 
nicht gerechnet haben, kann man ihnen nicht gut zum 
Vorwurf machen. Betrachtet man die Topographie der Ber- 
liner Gründungen der sechziger Jahre, so findet man West- 
end (gegründet von Quistorp 1866) nördlich der großen 
Döberitzer Heerstraße an einem Wege nach Spandau und 
an der Straße dorthin (Reichsstraße und Spandauer Damm), 
weit im Westen von Charlottenburg — und Charlottenburg 
war damals in keiner Weise Berlin. Friedenau lag am An- 
fang des Weges, der von der Potsdamer Straße nach Norden, 
an Wilmersdorf vorbei zum Zoo führte: der heutigen Bundes- 
allee; auch die Kolonie Wilmersdorf lag zu beiden Seiten 
dieses Weges, ziemlich weit nördlich des Dorfes Wilmers- 
dorf; Nikolsburger- und Prager Platz, Meierottostraße und 
Spichernstraße gehörten zu dieser Kolonie. Lichterfelde, 
entstanden durch den Zusammenschluß der Gemeinden 
Lichterfelde und Giesensdorf lag an einem anderen Wege, 
der Chausseestraße, der von der Potsdamer Chaussee entlang 
der Beeke (und ihrer Sümpfe und kleinen Seen) dorthin führte:
	        

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