ARCH+ 7. Jg. (1975) H. 25
Sigrid Fuhrmann, Irmgard Mailandt,
Stephan Reiss-Schmidt
“MILIEU” UND WAS DAHINTER STECKT
Zur Kritik der ökonomistischen Abstraktion vom
Gebrauchswert in der urbanistischen Diskussion *)
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zu sein, weil er einen Schnittpunkt von Berufspraxisdiskus-
sion, Sanierungsdiskussion — die im Moment primär eine
Diskussion über das Konzept der „erhaltenden Erneuerung”
und ihre staatliche Förderung (Modernisierung als „drittes
Bein der staatlichen Wohnungsbaupolitik, Modernisierungs-
gesetz) ist — und der Diskussion um die Strategie und den
Stellenwert urbanistischer Politik (Bürgerinitiativen, ge-
werkschaftliche Strategie im Reproduktionsbereich) darstellt.
Wir werden zunächst (Teil A) Methodik und Argumentations-
führung von CTR kurz rekapitulieren und dabei versuchen,
ihre Definition des Milieubegriffs und die darin enthaltenen
Widersprüche aufzuzeigen. Dann (Teil B) sollen die Folgen
ihrer Argumentation und Definition sowohl in Bezug auf
das Ausblenden bestimmter Diskussionsebenen als auch in
Bezug auf die Bestimmung der Berufspraxis des Architekten
und die Strategie einer urbanistischen Politik dargestellt
werden.
Im dritten Teil (Teil C) soll unsere Kritik des verkürzten
Milieubegriffs durch den Versuch einer erweiterten inhalt-
lichen Bestimmung von „Milieu’”” begründet und weiterge-
führt werden. Dabei wird auch die Frage der Erhaltung von
„Milieu”, die in der praktischen Planerdiskussion vom BDA
bis zum Werkbund eine zentrale Rolle spielt, wieder aufge-
griffen.
Teil A
Zur Definition des Milieubegriffs bei
Christina Thürmer-Rohr
* ) Dieser Text entstand als Diskussionsbeitrag
des Seminars: „Funktionalistische Architektur-
theorien und ästhetische Oppositionsbewegungen”
an der Abteilung für Architektur der RWTH
Aachen. Die Betreuung erfolgte durch Nikolaus
Kuhnert, Arbeitsgruppe für Planungsgrundlagen.
Anlaß für unsere Kritik war der in Arch+ 23 abgedruckte Vor-
trag „Zur vermeintlichen und tatsächlichen Bedeutung von
Milieu” von Christina Thürmer-Rohr. 1! In ihm wird das Pro-
blem der inhaltlichen Bestimmung der Gebrauchswerte im
Wohn- und Stadtteilbereich unserer Meinung nach verkürzt
behandelt. Diese Verkürzung hat nicht nur Diskussionsdefizite
zur Folge, indem die Frage des Gebrauchswerts nicht mehr
diskutierenswert erscheint, sondern sie hat auch sehr reale
Folgen für die politische Praxis im Stadtteil.
Wir wollen versuchen, aus der Kritik an der Argumentation
von CTR einige Ansatzpunkte für eine weiterführende Diskus-
sion zu entwickeln. Der Milieubegriff und die Frage nach sei-
nen Inhalten erscheint uns dafür ein geeigneter Ausgangspunkt
Im ersten Teil des Vortrags von CTR geht es um die „ver-
meintliche Bedeutung von Milieu”, um die Kritik an der
ideologischen Verwendung des Milieubegriffs vor dem Hin-
tergrund der politisch-ökonomischen Analyse der Sanierungs-
problematik. Wenn auch gegen die Stoßrichtung und die
Funktion dieser Ideologiekritik nichts einzuwenden ist, so
sind doch in dieser Kritik schon zwei Voraussetzungen ent-
halten, die die Beschäftigung mit der „tatsächlichen Bedeu-
tung” von Milieu im zweiten Teil erheblich beeinflussen:
1. CTR kritisiert die Immaterialisierung von Milieu in den
sozialen Verkehrsformen und seine Materialisierung in der
Bausubstanz gleichermaßen als interessengebundene ideolo-
gische Verwendung des Milieubegriffs (was zweifellos rich-
tig ist) ohne jedoch die tatsächliche Bedeutung materieller
und immaterieller Bedingungen für Milieu und ihr Verhält-
nis zueinander auch nur zu erwähnen. Damit wird die
Grundlage für den unhistorischen und undialektischen
Milieubegriff gelegt, auf dem CTR’s gesamte Einschätzung
der tatsächlichen Bedeutung von Milieu basiert.
Uns scheint der Milieubegriff dagegen nur als dialektisches
Verhältnis von materiellen und immateriellen Bedingungen,
von baulich-räumlicher Form, ökonomischen Verhältnissen
und sozialen Verkehrsformen — vor dem Hintergrund Kol-
lektiver historischer Erfahrung — interpretierbar zu
sein.