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2. Mit dem Blick auf eine ganz bestimmte Argumentation 2
wird die Verknüpfung von Berufsinhalten des Architekten
mit sozialem und politischem Anspruch pauschal diffamiert
als „soziale Stützargumente” für ökonomische und berufs-
ständische Interessen. Damit wird die politische Strategie-
diskussion von vornherein aus der Berufspraxisdiskussion
herausgenommen und auf die gewerkschaftliche Organisation
des lohnabhängigen Architekten verwiesen. Bei der Frage
nach der inhaltlichen Qualifikation des Architekten (die nie
losgelöst von der Frage nach seiner politischen Position zu
behandeln ist) geht es nicht um das „ästhetisch qualitätvolle-
re Antlitz” im Sinne des Warenschönen, sondern um die ge-
nauere Bestimmung des Verhältnisses von materiellen und
immateriellen Bedingungen des Lebens im Stadtteil, um die
Bestimmung der Dialektik zwischen den sinnlichen Formen
und den sozialen Verkehrsformen und ihrer Beziehung zum
gemeinsamen „tertium comparationis””, den ökonomischen
Bedingungen.
Im zweiten Teil des Vortrags folgt die Definition der „tat-
sächlichen Bedeutung von Milieu”. Damit werden nach
der Kritik an der ideologischen Verwendung des Begriffs
(1) die zweite und dritte Ebene von „Milieu” eingeführt:
Milieu als Erscheinungsform konkreter Lebensbedingungen
(2) und das Wesen, die Substanz von „Milieu”, nämlich die
konkreten Lebensbedingungen selbst (3), die als „Milieu”
erscheinen. Diese drei Ebenen zunächst aufzuzeigen ist wich-
tig, da sie im Verlauf der weiteren Argumentation von CTR
immer wieder durcheinander und in Widerspruch zueinander
geraten, und damit einige Verkürzungen und Verwirrungen
produzieren.
So wird zunächst Milieu als „Erscheinungsform der tatsäch-
lichen und konkreten Lebensbedingungen” (S. 35) richtig
definiert, dann aber im nächsten Satz diese konkreten Le-
bensbedingungen auf „finanzielle Mittel” eingeschränkt.
So werden dann im folgenden Bausubstanz und historische
Momente als konstituierend für die Erscheinungsform Milieu
eingeführt; im Widerspruch dazu aber unter der Frage, „was
die Bewohner im Gebiet hält” die eindeutige und einseitige
Ökonomisierung des Wesens von Milieu vollzogen: „Das
Milieu . . . läßt sich auf die Folgen ökonomischer Beschrän-
kungen der Milieubewohner reduzieren”. (S. 35) Milieu re-
sultiert also nach dieser Definition aus niedrigen Mieten
und ökonomischen Beschränkungen der Bewohner. Damit
macht CTR genau das, was sie den Architekten als „Materia-
lisation des Milieubegriffs in der Bausubstanz” vorwirft, nur
sie materialisiert Milieu voll und ganz in der Miete, im Tausch-
wert der Wohnung.
Sie schafft damit hervorragende Ausgangspositionen für eine
variierte ideologische Benutzung des Milienbegriffs: wenn
positiv erlebte soziale Verkehrsformen allein dadurch zustan-
de kommen, daß viele Menschen mit geringem Einkommen
in einem Stadtviertel in billigen Wohnungen wohnen, kann
man ja die innerstädtischen Wohnviertel getrost und ohne
Schaden für die Bewohner der Spitzhacke zum Opfer fallen
lassen, ohne Skrupel und in der Gewissheit, daß Milieu im
ARCH+ 7. Jg. (1975) H. 25
Handgepäck billiger Mieten überallhin mitreist.
Denn wenn auch der Hinweis auf die Bedeutung der Miet-
höhe für die Bewohner innerstädtischer Arbeiterviertel im
Rahmen der Kritik einer interessengebundenen ideologi-
schen Verwendung des Milieubegriffs durchaus richtig ist,
so ist er doch bestimmt nicht ausreichend, um das ganze
Wesen von „Milieu” zu begreifen. Konsequent versucht
CTR dann auch, die beobachteten sozialen Verkehrsformen.
die ja ihrerseits Erscheinungsformen bestimmter Lebensbe-
dingungen sind, auf das zurückzuführen, was sie hier als
entscheidende Lebensbedingungen allein gelten lassen will:
die ökonomischen Beschränkungen der Bewohner und
— mehr am Rande — die physische Obsolenz der Bausub-
stanz. (S. 35/36) Dabei fällt dann die Frage nach den ob-
jektiv vorhandenen und auch subjektiv erlebten Qualitäten
derjenigen Lebensbedingungen, die als Milieu erscheinen,
unter den Tisch. Doch darauf soll später noch genauer ein-
gegangen werden. Wenn CTR dann (S. 36) fragt, ob man
ein Quartier erhalten müsse, weil das Milieu so schön ist,
oder weil die Bewohner es brauchen, so ist das eine der
unsinnigen konstruierten Widersprüche, die aus der ständi-
gen Verwechslung der drei Ebenen des Milieubegriffs
(ideologischer Gebrauch des Begriffs, Erscheinungsform
und Wesen von „Milieu”’) resultieren, und aus denen sie
ihre Argumentation entwickelt. In der Tat brauchen die
Bewohner das Gebiet, aber nicht, weil die Mieten ihren
ökonomischen Beschränkungen entsprechen, sondern
weil sie eine bestimmte Wohnung in einer bestimmten
Umgebung mit bestimmten Gebrauchswertqualitäten, die
ganz bestimmte Lebens- und Verkehrsformen ermöglicht,
brauchen — die natürlich für sie auch bezahlbar sein muß.
Der von CTR konstruierte Widerspruch zwischen „schö-
nem Milieu” und „ein Gebiet brauchen” besteht also nur
dann, wenn hier Milieu als der ideologische Begriff ge-
meint ist; bezieht man sich dagegen auf die reale Sub-
stanz des Begriffs, so brauchen die Bewohner das Gebiet,
weil dort Milieu ist, weil dort bestimmte materielle und
immaterielle Lebensbedingungen, die als Milieu erscheinen,
noch vorhanden sind.
Die Forderung nach „Milieuerhaltung” wird als rein ideo-
logische dem einzig wirklichen Interesse nach billigen
Mieten gegenübergestellt. Der Verlust, den Sanierungs-
betroffene erleiden, und den es zu verhindern gilt, sieht
CTR einzig in den „günstigen billigen Wohnmöglichkeiten”
(S. 37). Aus diesen sollen sich dann alle von den Bewoh-
nern als positiv empfundenen Qualitäten eines Viertels
ergeben. „Milieu”, hier wiederum als der ideologische Be-
griff, wird der „Wirklichkeit””, die hier ökonomistisch ver-
kürzt als „billige Miete” beschrieben wird, gegenüberge-
stellt. Indem Ideologie und Wirklichkeit als einander aus-
schließende Momente gleichgesetzt werden mit „Milieu”
und billigen Mieten, wird zweierlei übersehen: erstens,
daß Ideologie und Wirklichkeit sich im Milieubegriff selbst
begegnen; das hier als Wirklichkeit ausgegebene materielle
Moment „billige Miete” ist nicht das Pendant zu Milieu,
sondern vielmehr eines der Elemente des Wesens von Milieu.