ARCH+ 7. Jg. (1975) H. 25
tung damals bereits in so großen Dimensionen gedacht hat,
es auch in anderen Richtungen getan haben möchte. Der
zweite Punkt, den ich erwähnen möchte, ist der Zuschnitt
der Parzellen in Friedenau und auch in Teilen von Lichterfelde.
Die Friedenauer Häuser sind klein und haben kleine Gärten:
man kann das in den Straßen, die von Carstenns Gründung
noch übrig sind, leicht nachprüfen; aber auch in Lichterfelde
gab es und gibt es noch Häuser recht bescheidener Größe in
entsprechenden Grundstücken, wie etwa die Lilienthal-Bur-
gen in der Paulinenstraße, es gibt Doppelhäuser, es gibt sogar
Reihenhäuser, welche außerordentlich englisch wirken; und
von England als einem Vorbild ist denn auch in der Schrift
von 1892 die Rede. Er schreibt, er habe „an Ort und Stelle
die Entwicklung dieser damals einzigen Weltstadt (studiert),
welche in ihren neuen Teilen rationell angelegt war . .. Die
innere Stadt, das alte London, ist nämlich ringsum von
Fideikommissgütern des hohen englischen Adels eingeschlos-
sen, die gesetzlich nicht veräußert und auch nur zeitlich auf
höchstens 99 Jahre verpachtet werden dürfen. Hierdurch ist
die räumliche Entwicklung Londons zum Besten seiner Ein-
wohner bestimmt worden, denn dieses Pachtverhältnis, wel-
ches einerseits die Gefahr in sich birgt, nach Ablauf der
Pachtzeit die Häuser vielleicht abbrechen zu müssen und
andererseits den Vorteil bietet, den Bauplatz nicht ängstlich
mit vierstöckigen Häusern ausnützen zu müssen, ließ in den
neuen Stadtteilen Londons vorwiegend villenartige Anlagen
entstehen.”
Diese englischen Studien liegen zwischen der Gründung von
Marienthal und den Berliner Gründungen; es ist keineswegs
unmöglich, daß London seine Gedanken modifiziert hat.
Da sein Vorbild trotz dem was er villenartige Anlagen nennt
schließlich das ganz normale englische Einfamilienhaus ge-
wesen ist, wie man es als freistehendes, als Doppel-, besonders
aber als Reihenhaus in jeder der damals „neueren” Straßen
von London findet, so kann man sich leicht vorstellen, daß
eben dieser Gedanke, daß breite Schichten eines Volkes im
eigenen Hause wohnen, ihn angezogen hat, und daß er nach
seiner Rückkehr nach Berlin versucht hat, diesen Gedanken
mit dem spekulativen zu verbinden, wohlhabende Leute in
großen Villen anzusiedeln. Sieht man den Plan von Lichter-
felde genau an, so wird man in der Tat eben dies finden:
eine Mischung recht kleiner, mittelgroßer und einiger recht
großer Parzellen. Einige dieser sehr großen Parzellen waren
offenbar dazu bestimmt, en bloc an Gesellschaften abgege-
ben zu werden, welche sie ihrerseits aufteilten. Lichterfelde
ist niemals eine Kolonie gewesen wie etwa Wannsee mit
seinen riesigen Seegrundstücken. Carstenn schreibt (1892):
„Ich hielt mich in Preisen, welche es jedem einigermaßen
vermögenden Manne möglich machten, in meinen Kolonien
sich anzusiedeln, denn der von mir geforderte Höchstbetrag
betrug nur 75 Mark für die Quadratruthe, so daß sich ein
genügend umfangreiches Villen-Grundstück von 60 Quadrat-
ruthen (1/3 Morgen = 850 qm) auf 4500 Mark und der gan-
ze Morgen auf 13 500 Mark stellte.” Die Quadratrute ent-
hält etwa 14 qm, das heißt der Preis für den Quadratmeter
betrug unter 5 Mark. Das kann man zwar nicht mit heuti-
gen Mark vergleichen, aber es war auch für damalige Ver-
—
hältnisse billig. Carstenn fährt fort: „Ich hatte aber auch die
Preise der Bauunternehmer und Handwerker angemessen ni-
velliert, hatte für Errichtung einer Eisenbahnstation, von Post
und Telegraph und für bequeme Eisenbahn-Verbindung mit
Berlin gesorgt, hatte Arzt und Apotheker an den Ort gezogen
und die Errichtung höherer Knaben- und Mädchenschulen
veranlaßt, kurz, man konnte sich in meiner Villen-Kolonie
ein gesundes eigenes Heim für ein Kapital gründen, dessen
Zinsen bei weitem nicht an die Mieten der Großstadt mit un-
gesunder schlechter Luft heranreichten, man brauchte dabei
das großstädtische Leben nicht zu entbehren, fand anderer-
seits aber auch am Orte selbst alles, was man für das Leben be-
darf . . . Dadurch aber, daß mich das Vorgehen der Bauverwal-
tung des Kriegsministeriums für die Verfolgung dieses Planes
und Zieles insolvent machte, fiel das Publikum Spekulanten
in die Hände und mußte für die Quadratruthe bis zu 500 Mark
und für den Morgen bis zu 90 000 Mark bezahlen, oder kam
in Wohnplätze, welche für den Villenbau entweder gar nicht
oder nur ungeügend vorbereitet waren.”
Ich habe auch das bittere Ende wiedergegeben, denn es weist
auf den Unterschied zwischen den Gründungen Carstenns und
denen der rein spekulativen Terraingesellschaften hin, welche
dann auf eben dem Gebiet entstanden sind, welches Carstenns
Plan vorgesehen hatte. Er selbst erwähnt noch einen weiteren
Grund dafür, warum in dem von ihm geplanten Ring um den
Grunewald die Böden billiger sein durften als die auf dem frei-
en Markte angebotenen: diese Böden gehörten dem Fiskus;
und der Fiskus, meinte Carstenn, hätte sie zu nicht spekulativen
Preisen abgeben können.
Aber der Fiskus verkaufte sie Carstenn nicht; und seine Bezie-
hung zum Fiskus, zum Militärfiskus (Kriegsminister Roon) im
besonderen: die Kadettenanstalt in Lichterfelde und die immer-
währenden und immer höheren Forderungen, die der Militär-
fiskus für die Kadettenanstalt an Carstenn stellte, haben ihn
schließlich ruiniert. Das gibt er 1892 an, und er versucht es zu
belegen. Ich sehe keinen Grund, warum man ihm nicht glauben
sollte. Wir haben immerhin Theodor Fontanes Zeugnis dafür.
Er schrieb am 9. Dezember 1887 an seinen Sohn Theodor über
Carstenns Prozeß mit dem Kriegsministerium: „„(...) Hast
Du denn die Prozeßverhandlungen zwischen dem Kriegsministe-
rium und Carstenn-Lichterfelde gelesen? Höchst interessant.
Der preußische Staat kann keinen größeren Bewunderer haben
als mich (daß er mir sympathisch wäre, kann ich nicht sagen),
aber mitunter kriegt diese Bewunderung doch einen Knacks,
und angesichts dieses Prozesses erscheint mir dies ganze Staats-
wesen grotesk, karikiert und, was das schlimmste ist, nicht mal
ehrlich, sicherlich nicht anständig. Und es sind denn auch in
der Tat die staatlichen „Korrektheiten”, die uns in der ganzen
Welt so verhaßt gemacht haben, und wahrhaftig nicht mit Un-
recht. Es gibt nicht zwei Sorten von Anständigkeit, und was
ein anständiger Mensch nicht darf, das darf auch ein anständi-
ger Staat nicht. Verstößt der Staat gegen diesen einfachen Satz,
so gibt er nur ein schlechtes Beispiel.”
Carstenn starb 1896 in der maison de sante in Schöneberg:
einer Nervenheilanstalt. Kurt Pomplun schreibt: „In der ‘Mäsong’