vollendete sich aber auch manches tragische Schicksal; sie
war das Sterbehaus des sozialdemokratischen Parlamenta-
riers Hasenclever, des hochgelehrten und sprachbewander-
ten Professors Georg Büchmann, Autors der ‘Geflügelten
Worte’, des Komponisten des ‘Weserliedes’, Gustav Presse]
und des ‘Napoleons der Terrainspekulanten’, Wilhelm von
Carstenn-Lichterfelde.”
Julius Faucher, der bedeutendste Bodenreformer und Kri-
tiker der Großstadt der Gründerzeit schrieb über den „Na-
poleon der Terrainspekulanten” bereits 1868 — dem Jahre,
in dem Carstenn den König in Lichterfelde empfing: „Das
Verdienst, zuerst in Deutschland eine Villenbauunterneh-
mung im großen und ganzen, und zwar mit verdientem Er-
folg für sich selbst durchgeführt zu haben, gebührt bekannt-
lich Herrn Carstenn, der die Villastadt in Wandsbeck bei '
Hamburg angelegt hat.”” Das ist ein wichtiges Urteil über sei-
ne Anfänge. Ergänzen wir es durch ein Urteil aus der hohen
Zeit der Gründungen, 1876, einer Zeit, in welcher auch die
spätere, von Carstenn wegführende Entwicklung bereits
sichtbar war. Der „Eisenbahnkönig” Strousberg schreibt:
„Die Ausschreitung über die Grenzen des Berliner Weichbil-
des hinaus, das Außercultursetzen von zahllosen Feldern,
meilenweit um Berlin, der Umstand, daß man jetzt, da, wo
Kartoffeln gepflanzt werden sollten, junge Bäume als Be-
grenzungen zukünftiger Straßen sehen kann, Terrains, die
zehn Millionen Einwohner nicht occupiren könnten — Gesell-
schaften und Privaten gehörend — und wobei viele Tausende
ihr Vermögen verloren haben — dieses Kunststück verdan-
ken wir Herrn v. Carstenn, und hier hat sich die Tugend be-
lohnt, denn der Adel und Millionen sind sein Lohn, außerdem
ist er populär geworden . . . er hat als kluger Geschäftsmann
gehandelt, hat die Courage gehabt, hier ein neues Feld in
Angriff zu nehmen, mit eigenen Mitteln, großer Energie und
Ausdauer das Möglichste aus dem Vorhandenen gemacht
und reichlich dabei geerntet, er verstand sein Publicum, da-
rum gönnt es ihm seinen Verdienst; er wußte in der Hergabe
des Terrains für die Cadetten-Anstalt die Wurst nach der
Speckseite zu werfen, ist dafür geadelt und hat dadurch sei-
ne Baustellen zu höheren Preisen verkaufen können... .
Allerdings sind die Nachahmer meistens Pfuscher und Schwind:
ler und haben nicht den Verstand, die Mittel und die Ehrlich-
keit des Herrn v. Carstenn mit in das Geschäft gebracht, aber
er hat den Weg gezeigt, Sandschollen Meilen weit von Berlin
in Bauterrains zu verwandeln, er hat den Handel mit solchen
Baustellen eingeführt. Sandschollen waren im Überfluß vor-
handen. Die Zeit war günstig, und Andere setzten das Ge-
schäft in einem Maße fort, welches kaum berechenbaren
Schaden und Verlust verursacht hat.”
Das scheint ein faires Urteil zu sein; und es wirkt besonders
darum rlaubwürdig, weil es von einem Manne ähnlicher Art
ausgesprochen wurde, wie Carstenn einer war: einem Spe-
kulanten und Geschäftsmann, der in seinen Geschäften je-
doch dem Gedanken an den Nutzen für die Gesamtheit einen
gewissen Platz einräumte: einem Typ, der unter den großen
Unternehmern der Zeit nicht ganz selten gewesen ist. Car-
stenn im besonderen hat wohl Keiner Ehrlichkeit und öffent-
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ARCH+ 7. Jg. (1975) H. 25
lichen Sinn abgesprochen. Eine Weile ritt er auf der Welle
der Spekulation, die schließlich ihn mitriß und ganz am Ende
herunterzog; eben das, daß er eine Weile wenigstens in seinen
eigenen Gründungen der hemmungslosen Profitgier Widerstand
zu leisten imstande war wird aus Strousbergs Bericht deutlich.
Wir beschäftigen uns aber mit dem Mann, weil er der Spekula-
tion die Richtung gewiesen hat, weil er dem steinernen Berlin
das andere, das grüne entgegensetzte, und zwar bewußt: ein
Beginnen, dessen Tragweite für Berlin man schwer überschät-
zen kann. Beide Teile haben immer wieder aufeinander ein-
gewirkt, und die besondere, bipolare Struktur Berlins hat die
städtebaulichen Tendenzen der Zeit um 1910 — das ist das
Jahr des großen Berlin-Wettbewerbs — mitbestimmt. Ihre
Wirkung ist entfernt auch in der Siedlungspolitik im Berlin
der zwanziger Jahre zu bemerken. Auch die Landhaus-Ideolo-
gie hat sich an dem Gegensatz zwischen dem steinernen und
dem grünen Berlin entwickelt. Die Sache selbst aber: dieses
ganz außergewöhnlich große Areal von Gärten und Alleen
zwischen den Gärten, ist etwas gewesen, womit Berlin sich
in seiner Entwicklung seit 1870 hat auseinandersetzen müs-
sen, und es muß das noch heute.
Für den Charakter dieser Vororte ist die Stelle aus Carstenns
Schrift bezeichnend, die wir angeführt haben, und wo er von
den Bahnhöfen, den Schulen, den Berufen spricht, die er
nach Lichterfelde gezogen habe, um es von der großen Stadt
unabhängig zu machen. Er hätte auch von dem ersten Laden-
zentrum in Berlin sprechen können, dem „Bazar’”” am Bahn-
hof Lichterfelde Ost, welchem in den letzten Jahren des Jahr-
hunderts das schöne Ladenzentrum am Banhof Lichterfelde
West gefolgt ist, welches gegenwärtig vom Landeskonservator
restauriert wird. Er hätte sogar davon sprechen können, daß
1881 die erste elektrische Straßenbahn Berlins in Lichterfelde
gebaut wurde, denn er hat ganz recht gehabt: diese Gründun-
gen, besonders Lichterfelde, entwickelten ein Eigenleben, von
dem man sich heute im Vorortgebiet einer Großstadt schlecht
noch eine Vorstellung machen kann. Um nur ein Beispiel zu
nennen: die berühmten Dirigenten und Virtuosen Berlins kon-
zertierten alle auch in Lichterfelde, weil die musikalischen
Bürger von Lichterfelde auf die Konzerte in der Aula des Real-
gymnasiums abonniert waren und nicht auf die in der Philhar-
monie. Das Eigenleben hatte seine Gefahren, barg in sich den
Hang zum Kleinstädtischen und Provinziellen; auch den zum
Rückschritt, welchem in Lichterfelde die Kadettenanstalt
Vorschub leistete: es lebten dort sehr viele Offiziere und hö-
here Staatsbeamte des Kaisertums.
Die Form dieser Vororte betont ihre Eigenständigkeit als Ko-
lonie. Sehr deutlich wird das noch heute in Westend, dessen
annähernd quadratischer Rasterplan mit einem großen Platz
in der Mitte — er war allerdings dreimal so groß geplant wie
er heute ist — es stark von seiner vorstädtischen Umgebung
abhebt. Dort sind übrigens die Straßenbäume am Rand der
Gartenzäune gepflanzt, nicht, wie in den späteren Kolonien,
zwischen Bürgersteig und Fahrdamm. Daß die Baumwölbung
Bürgersteig und Fahrdamm überspannt trägt zu der Besonder-
heit von Westend bei. Übrigens gibt es dort keine Dorfaue,
an die sich die Kolonie hätte anschließen können; sie ist ganz