Full text: ARCH+ : Studienhefte für Planungspraxis und Planungstheorie (ab H. 28: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen) (1975, Jg. 7, H. 25-28)

vollendete sich aber auch manches tragische Schicksal; sie 
war das Sterbehaus des sozialdemokratischen Parlamenta- 
riers Hasenclever, des hochgelehrten und sprachbewander- 
ten Professors Georg Büchmann, Autors der ‘Geflügelten 
Worte’, des Komponisten des ‘Weserliedes’, Gustav Presse] 
und des ‘Napoleons der Terrainspekulanten’, Wilhelm von 
Carstenn-Lichterfelde.” 
Julius Faucher, der bedeutendste Bodenreformer und Kri- 
tiker der Großstadt der Gründerzeit schrieb über den „Na- 
poleon der Terrainspekulanten” bereits 1868 — dem Jahre, 
in dem Carstenn den König in Lichterfelde empfing: „Das 
Verdienst, zuerst in Deutschland eine Villenbauunterneh- 
mung im großen und ganzen, und zwar mit verdientem Er- 
folg für sich selbst durchgeführt zu haben, gebührt bekannt- 
lich Herrn Carstenn, der die Villastadt in Wandsbeck bei ' 
Hamburg angelegt hat.”” Das ist ein wichtiges Urteil über sei- 
ne Anfänge. Ergänzen wir es durch ein Urteil aus der hohen 
Zeit der Gründungen, 1876, einer Zeit, in welcher auch die 
spätere, von Carstenn wegführende Entwicklung bereits 
sichtbar war. Der „Eisenbahnkönig” Strousberg schreibt: 
„Die Ausschreitung über die Grenzen des Berliner Weichbil- 
des hinaus, das Außercultursetzen von zahllosen Feldern, 
meilenweit um Berlin, der Umstand, daß man jetzt, da, wo 
Kartoffeln gepflanzt werden sollten, junge Bäume als Be- 
grenzungen zukünftiger Straßen sehen kann, Terrains, die 
zehn Millionen Einwohner nicht occupiren könnten — Gesell- 
schaften und Privaten gehörend — und wobei viele Tausende 
ihr Vermögen verloren haben — dieses Kunststück verdan- 
ken wir Herrn v. Carstenn, und hier hat sich die Tugend be- 
lohnt, denn der Adel und Millionen sind sein Lohn, außerdem 
ist er populär geworden . . . er hat als kluger Geschäftsmann 
gehandelt, hat die Courage gehabt, hier ein neues Feld in 
Angriff zu nehmen, mit eigenen Mitteln, großer Energie und 
Ausdauer das Möglichste aus dem Vorhandenen gemacht 
und reichlich dabei geerntet, er verstand sein Publicum, da- 
rum gönnt es ihm seinen Verdienst; er wußte in der Hergabe 
des Terrains für die Cadetten-Anstalt die Wurst nach der 
Speckseite zu werfen, ist dafür geadelt und hat dadurch sei- 
ne Baustellen zu höheren Preisen verkaufen können... . 
Allerdings sind die Nachahmer meistens Pfuscher und Schwind: 
ler und haben nicht den Verstand, die Mittel und die Ehrlich- 
keit des Herrn v. Carstenn mit in das Geschäft gebracht, aber 
er hat den Weg gezeigt, Sandschollen Meilen weit von Berlin 
in Bauterrains zu verwandeln, er hat den Handel mit solchen 
Baustellen eingeführt. Sandschollen waren im Überfluß vor- 
handen. Die Zeit war günstig, und Andere setzten das Ge- 
schäft in einem Maße fort, welches kaum berechenbaren 
Schaden und Verlust verursacht hat.” 
Das scheint ein faires Urteil zu sein; und es wirkt besonders 
darum rlaubwürdig, weil es von einem Manne ähnlicher Art 
ausgesprochen wurde, wie Carstenn einer war: einem Spe- 
kulanten und Geschäftsmann, der in seinen Geschäften je- 
doch dem Gedanken an den Nutzen für die Gesamtheit einen 
gewissen Platz einräumte: einem Typ, der unter den großen 
Unternehmern der Zeit nicht ganz selten gewesen ist. Car- 
stenn im besonderen hat wohl Keiner Ehrlichkeit und öffent- 
I 
ARCH+ 7. Jg. (1975) H. 25 
lichen Sinn abgesprochen. Eine Weile ritt er auf der Welle 
der Spekulation, die schließlich ihn mitriß und ganz am Ende 
herunterzog; eben das, daß er eine Weile wenigstens in seinen 
eigenen Gründungen der hemmungslosen Profitgier Widerstand 
zu leisten imstande war wird aus Strousbergs Bericht deutlich. 
Wir beschäftigen uns aber mit dem Mann, weil er der Spekula- 
tion die Richtung gewiesen hat, weil er dem steinernen Berlin 
das andere, das grüne entgegensetzte, und zwar bewußt: ein 
Beginnen, dessen Tragweite für Berlin man schwer überschät- 
zen kann. Beide Teile haben immer wieder aufeinander ein- 
gewirkt, und die besondere, bipolare Struktur Berlins hat die 
städtebaulichen Tendenzen der Zeit um 1910 — das ist das 
Jahr des großen Berlin-Wettbewerbs — mitbestimmt. Ihre 
Wirkung ist entfernt auch in der Siedlungspolitik im Berlin 
der zwanziger Jahre zu bemerken. Auch die Landhaus-Ideolo- 
gie hat sich an dem Gegensatz zwischen dem steinernen und 
dem grünen Berlin entwickelt. Die Sache selbst aber: dieses 
ganz außergewöhnlich große Areal von Gärten und Alleen 
zwischen den Gärten, ist etwas gewesen, womit Berlin sich 
in seiner Entwicklung seit 1870 hat auseinandersetzen müs- 
sen, und es muß das noch heute. 
Für den Charakter dieser Vororte ist die Stelle aus Carstenns 
Schrift bezeichnend, die wir angeführt haben, und wo er von 
den Bahnhöfen, den Schulen, den Berufen spricht, die er 
nach Lichterfelde gezogen habe, um es von der großen Stadt 
unabhängig zu machen. Er hätte auch von dem ersten Laden- 
zentrum in Berlin sprechen können, dem „Bazar’”” am Bahn- 
hof Lichterfelde Ost, welchem in den letzten Jahren des Jahr- 
hunderts das schöne Ladenzentrum am Banhof Lichterfelde 
West gefolgt ist, welches gegenwärtig vom Landeskonservator 
restauriert wird. Er hätte sogar davon sprechen können, daß 
1881 die erste elektrische Straßenbahn Berlins in Lichterfelde 
gebaut wurde, denn er hat ganz recht gehabt: diese Gründun- 
gen, besonders Lichterfelde, entwickelten ein Eigenleben, von 
dem man sich heute im Vorortgebiet einer Großstadt schlecht 
noch eine Vorstellung machen kann. Um nur ein Beispiel zu 
nennen: die berühmten Dirigenten und Virtuosen Berlins kon- 
zertierten alle auch in Lichterfelde, weil die musikalischen 
Bürger von Lichterfelde auf die Konzerte in der Aula des Real- 
gymnasiums abonniert waren und nicht auf die in der Philhar- 
monie. Das Eigenleben hatte seine Gefahren, barg in sich den 
Hang zum Kleinstädtischen und Provinziellen; auch den zum 
Rückschritt, welchem in Lichterfelde die Kadettenanstalt 
Vorschub leistete: es lebten dort sehr viele Offiziere und hö- 
here Staatsbeamte des Kaisertums. 
Die Form dieser Vororte betont ihre Eigenständigkeit als Ko- 
lonie. Sehr deutlich wird das noch heute in Westend, dessen 
annähernd quadratischer Rasterplan mit einem großen Platz 
in der Mitte — er war allerdings dreimal so groß geplant wie 
er heute ist — es stark von seiner vorstädtischen Umgebung 
abhebt. Dort sind übrigens die Straßenbäume am Rand der 
Gartenzäune gepflanzt, nicht, wie in den späteren Kolonien, 
zwischen Bürgersteig und Fahrdamm. Daß die Baumwölbung 
Bürgersteig und Fahrdamm überspannt trägt zu der Besonder- 
heit von Westend bei. Übrigens gibt es dort keine Dorfaue, 
an die sich die Kolonie hätte anschließen können; sie ist ganz
	        

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.