| Focus: Lokale Politikforschung
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Wilfried Nelles, Reinhard Oppermann
Alternativen der Politikberatung:
Beratung der Bürger oder der Bürokratie? — Anmerkungen zum Praxisbezug von Sozialwissenschaft am Beispiel ihrer Funktion
bei der Auseinandersetzung um die Erhaltung von Arbeitersiedlungen im Ruhrgebiet
Der nachfolgende Beitrag wurde für die
„Deutsche Vereinigung für Politische
Wissenschaft” anläßlich ihres Jahreskon-
gresses 1977 in Bonn, Oktober 1977,
geschrieben.
„Wissenschaftler als Gefangene ihrer
eigenen Klugheit ...”
„Denn die Wissenschaftler sind klug. Sie
haben begriffen, daß die Existenz ihrer Wissen-
schaft nicht mehr abhängig ist von den Produ-
zenten von Lebensmitteln — im weitesten Sinne
des Wortes. Die für sie mit produzieren und ih-
nen dadurch erst die andere Tätigkeit ermögli-
chen. Die Wissenschaftler haben begriffen, daß
sie abhängig sind von jenen Kräften, die aus
ihren Erkenntnissen Nutzen ziehen können.
Den Nutzen, der es diesen Kräften möglich
macht, den gegenwärtigen Verteilungsschlüsse!l
zu erhalten und auszubauen. Diese Wissen-
schaftler sind so klug gewesen, daß sie zu
Gefangenen ihrer eigenen Klugheit geworden
sind. Sie haben jene Kräfte stark gemacht, die
nunmehr über die Existenz und über die Fort-
entwicklung ihrer Wissenschaft entscheiden
können. Sie verfügen durch die Anwendung
der wissenschaftlichen Ergebnisse über die
Macht und die Mittel, Teilbereiche der Wissen-
schaft zu fördern oder stillzulegen.” (Aich
1977. 178).
Prodosh Aich hat die gegenwärtige Si-
tuation der Politikwissenschaft mit diesen
Worten polemisch, aber treffend charakte-
risiert. He//mut Wollmanns ‚,Leitreferat’”
für die Tagung dieser Arbeitsgruppe fügt
dem an mehreren Stellen die nüchternen
Zahlen und Fakten hinzu, die die bedroh-
liche Situation der Politikwissenschaft und
ihres Nachwuchses belegen (Wollmann
1977, 1)!. Darüber hinaus läuft dieses Re-
ferat, das offenbar in der Absicht geschrie-
ben wurde, einen gangbaren Weg zwischen
kritischem Anspruch und verantwortungs-
vollem Handeln gegenüber der Disziplin
und dem darin ausgebildeten Nachwuchs
vorzuzeichnen, Gefahr, trotz allem kriti-
schen Bemühen genau das Verhalten der
Politikwissenschaft anzuempfehlen, das
Aich hier in ironischer Weise als unkri-
tisch geißelt.
”Theorie-Praxis-Vermittlung’ unter Ver-
zicht auf Kritik?
Andererseits spricht manches dafür,
daß für die Politikwissenschaft die Über-
windung der praktischen Isolation, in der
sie sich befindet, ein existentielles Gebot
ist. Die Frage ist jedoch, wie dies mög-
lich ist, ohne ihre Existenz als kritische
Wissenschaft zu gefährden. Für die
Kommunalpolitik, um die es hier geht,
hielt Aich kürzlich als Ergebnis empiri-
scher Studien fest: „Wir leben also in
giner Ordnung, die nicht Demokratie
(Volksherrschaft), sondern Bürokratie
(Verwaltungsherrschaft) ist” (S.164).
Wenn dies zutrifft: Wie kann dann loka-
le Politikforschung im Auftrag von bzw.
in Kooperation mit den Bürokratien ope-
rieren und gleichzeitig als kritische oder
als „‚Demokratiewissenschaft’” gelten wol-
len?
Wir wollen zu dieser Frage einen Bei-
trag liefern, der sich möglichst nahe an
der Praxis lokaler Politikforschung bewegt
{die eigenen praktischen Erfahrungen ga-
ben auch den Anstoß zur Verfassung die-
ses Referats) und allgemeine Fragen des
Theorie-Praxis-Verhältnisses nur am Rande
streift. Da unser Forschungsschwerpunkt
bei den Komplexen Stadtsanierung und
Bürgerbeteiligung liegt, sind die nachfol-
genden Überlegungen auch in diesem Kon-
text zu sehen.
Bürgerinitiativen als „Störgrößen’’ des Ver-
waltungsvollzugs
Lokale Politikforschung im Sinne von
anwendungsbezogener Policy-Analyse, Im-
plementations- oder Wirkungsforschung
hat zum Ziel die Aufdeckung der Fakto-
ren, die die Realisierung politischer Hand-
lungsprogramme behindern oder fördern.
Die Forschungsaufgabe besteht also vor-
nehmlich in der Bereitstellung von Steue-
rungswissen, was — wie Wollmann in sei-
nem „Leitreferat”” exemplifiziert — zur
Folge hat, daß z.B. Bürgerinitiativen
oder Absichten, Einstellungen und Verhal-
tensweisen der Betroffenen von Sanie-
rungsmaßnahmen als „Störfaktoren” an-
zusehen sind. In diesem Zusammenhang
spielt es keine Rolle, ob eine Untersu-
chung als „‚Policy-Analyse”, als „Prozeß-
analyse”, als „‚ex ante”’- oder „ex post”’-
Studie konzipiert ist.
„Entstörung” durch politikwissenschaft-
liche Analyse?
Wenn es zutrifft, daß die Verwaltung
wissenschaftliche Analysen einsetzt, um
eine reibungslosere Realisierung ihrer Pro-
gramme zu erreichen, und wenn weiter-
hin die lokale Politikforschung hierin
ein erfolgreiches Anwendungsfeld finden
will, wird dies mittel- und längerfristig
nur möglich sein, wenn die Forschung
den Blickwinkel des Auftraggebers in
etwa übernimmt. Andernfalls — also z.B.
dann, wenn der Forscher der auftragge-
benden Verwaltung systematisch den
„von unten‘’-Blickwinkel (Wollmann)
vorführen würde, ohne gleichzeitig zu zei-
gen, wie man diesen ohne wesentliche
Abstriche vom bestehenden Programm in-
tegrieren könnte — geriete die Forschung
selber auf Dauer zum Störfaktor. Anstatt
eine möglichst reibungslose und unver-
fälschte Programmrealisierung zu fördern,
würde sie diese nur erschweren. Dies
gilt vor allem dann, wenn — was einer
kritischen Sozialwissenschaft wohl selbst-
verständlich sein dürfte — die in der Un-
tersuchung entdeckte „von unten”-Per-
spektive nicht nur dem Auftraggeber,
sondern auch der Öffentlichkeit, insbe-
sondere den Betroffenen, in angemesse-
ner Form zugänglich gemacht würde,
mit der möglichen Folge, daß durch die
Untersuchung erst Widerstände gegen das
Programm des Auftraggebers geweckt
würden? .
„Ein Gutachten soll die Meinung des
Auftraggebers nicht die des Gutachters
wiedergeben!”
Welche Verwaltung — das o.a. Interes-
se vorausgesetzt — wird solche Forschung
wohl bezahlen? Welche Annahmen spre-
chen dafür, daß die Politikanalyse für
eine dauerhafte Etablierung in den kom-
munalen Forschungstöpfen nicht den
gleichen Preis zahlen muß, den z.B. Pla-
nungsinstitute auch zahlen, wenn sie sich
nicht ins Abseits stellen wollen, nämlich
Gutachten vorzulegen, die dem Interesse
des Auftraggebers entgegenkommen? Als
in einem von uns untersuchten Fall ein
Institut es tatsächlich unternahm, der auf-
traggebenden Stadtverwaltung ein Gut-
achten aus der „von unten”’-Perspektive
der Betroffenen vorzulegen, kam es
prompt zum Konflikt mit der Verwal-
tungsspitze, weil — wie ein Beamter
einem der Planer erklärte — die Stadt er-
wartet, daß ein Gutachten, das sie in Auf
trag gibt, ihre Meinung und nicht die des
Gutachters wiedergibt.
Diese geläufige Praxis? ist sicherlich
nicht einer „Korruptheit’” der Gutachter
anzulasten, sondern wohl als Strukturbe-
dingung von Auftragsforschung anzusehen,
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