Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1978, Jg. 10, H. 37-42)

| Focus: Standpunkte zur Umweltfrage 
Peter Willers 
Zur Position der BBU in der Energie- 
und Umweltschutzpolitik 
Vortrag im difu-Seminar „Umweltschutz und Öffentlichkeit im Rahmen der Energiepolitik”, Berlin am 29. Mai 1978 
Vorbemerkung 
Die Bewegung der Bürgerinitiativen ist in 
der letzten Zeit oft analysiert worden. 
Kaum eine Analyse aber ist dem Phäno- 
men gerecht geworden. Das ist auch gut 
so, denn es hat eine Befriedung und Ver- 
einnahmung durch das System erschwert. 
Auch dieser Beitrag soll keine Hinweise 
zur politischen Operationalisierung der 
Bürgerinitiativen geben. Ich möchte mit 
ihm Verständnis für uns und unsere An- 
liegen wecken und an Sie appellieren, die 
von uns angesprochenen Probleme ernst 
zu nehmen. 
... und eine Begriffsbestimmung 
„Umwelt”, dieser vielstrapazierte Begriff, 
wird je nach Interessens- oder Bewußt- 
seinslage für die verschiedensten Bereiche 
verwandt. Den Bürgerinitiativen wird oft 
vorgeworfen, ihn zu eng zu fassen, mit 
ihm gewissermaßen nur ihre. eigenen par- 
tikularen Interessen zu umschreiben. Die- 
ser Vorwurf trifft heute nicht mehr zu. 
Es ist zwar immer noch richtig, daß sich 
Menschen aus dem Gefühl der Betroffen- 
heit über bestimmte Fehlentwicklungen 
in unserer Gesellschaft in Bürgerinitiativen 
engagieren, aber die Einzelprobleme wer- 
den heute schneller als noch vor einigen 
Jahren als Teil einer wirtschaftlichen und 
gesellschaftlichen Gesamtsituation be- 
griffen. 
Mit anderen Worten: die Bürgerinitiativ- 
bewegung ist politischer geworden. 
Der Ökologiebegriff, über den ich rede, 
ist also umfassend. Er bezieht die Arbeits- 
welt ebenso ein, wie unser gesamtes sozia- 
/es Gefüge. 
Über den Zustand unserer Umwelt wird 
viel debattiert. Es gibt inzwischen Bücher- 
schränke voller Literatur zum Thema. Dort 
aber, wo aus den mittlerweile auf der Hand 
liegenden Erkenntnissen praktische Folge- 
rungen zur Veränderung von Politiken ge- 
zogen werden müßten, findet nicht mehr 
als verbale Kraftmeierei statt. Dort scheint 
es nur nach dem Motto „‚immer davon re- 
den, nie daran denken” zu gehen. Es er- 
übrigt sich eigentlich, angesichts der lau- 
fenden Debatte und der Legion von Ana- 
Iysen hier eine weitere zu geben. Ich will 
es trotzdem kurz und in Stichworten tun, 
um eine Grundlage für die folgende Dis- 
kussion zu geben. 
Ökologische Verelendung 
Die Vermarktung der menschlichen 
Beziehungen und Bedürfnisse ist nahezu 
total-.geworden. Die Wünsche der Men- 
schen werden durch den Markt und nicht 
durch selbständige Tätigkeiten einzelner 
oder von Gruppen definiert und befrie- 
digt. Die Möglichkeiten zur Entfaltung 
der Persönlichkeit werden immer weiter- 
gehend eingeschränkt. Individualismus ist 
nicht kalkulierbar und daher nicht er- 
wünscht. 
Die anfangs positiven Effekte unserer 
technischen und ökonomischen Entwick- 
lung, die Erleichterung der körperlichen 
Arbeit, die ausreichende Versorgung mit 
materiellen Gütern, zeitigen bei ihrer wei- 
teren Entwicklung immer mehr negative 
Auswirkungen. 
Der Verbrauch allgemeiner Güter wie 
Luft, Wasser und Boden nimmt rapide 
zu, ebenso der Gesundheitsverschleiß. Die 
Lebenserwartung geht zurück. Zivilisa- 
tionskrankheiten und psychische Erkran- 
kungen nehmen zu. 
Zentralisation und steigende Komplexi- 
tät von Organisation, Kapital und Macht, 
die fortschreitende Arbeits- und Funktio- 
nenteilung in unserer Gesellschaft verrin- 
gern die Anpassungsfähigkeit der sozialen 
Systeme. 
Die technologischen Entwicklungen 
lassen die Zeitspanne zwischen dem Ver- 
ursachen und Erkennen von Schadens- 
auswirkungen anwachsen. 
Der Mensch verliert Einsichts- und 
Einflußmöglichkeiten. Apathie, Anpas- 
sung und Selbstentfremdung sind die Fol- 
gen. 
Diese hier nur kurz angedeutete Situa- 
tion ist vielen Menschen am Problem der 
Energiepolitik deutlich geworden. Betrof- 
fen von direkt erfahrenen Entwicklungen 
haben viele erkannt, daß die Energie als 
zentraler Wirtschaftsfaktor die Spitze des 
Eisbergs einer wirtschaftlichen und gesell- 
schaftlichen Fehlentwicklung ist, gegen 
die der Kampf aufaenommen werden muß. 
Energiepolitik 
Ernstzunehmende Wirtschaftswissen- 
schaftler geben heute zu, vor einem 
Trümmerhaufen ökonomischer Theorien 
zu stehen. Keine der traditionellen Theo 
rien ist heute in der Lage, Hilfestellung 
bei der po/itischen Bewältigung der Zu- 
kunftsprobleme zu geben. Neue, alterna- 
tive Theorien sind nicht in Sicht. 
Unsere Wirtschaftspolitik entwickelt 
sich so ohne längerfristige Anhaltspunk- 
te, ohne Möglichkeit politischer Einfluß- 
nahme, einzig von fragwürdigen Eigen- 
gesetzlichkeiten des Marktes getrieben. 
Wie fragwürdig diese Marktmecha- 
nismen sind, läßt sich an der Entwick- 
lung der Energiepolitik der letzten Jahre 
leicht ablesen. Noch vor drei Jahren ver- 
suchte man uns von dem allseits bedauer- 
ten, aber angeblich unausweichlichen 
Sachzwang zu überzeugen, daß sich der 
Strombedarf jährlich um etwa 7% stei- 
gere, also in 10 Jahren verdoppele. Mit 
diesem Argument wurde alles gerecht- 
fertigt; auch die geplanten Ausbauraten 
des Atomprogramms. 
Inzwischen sind wir klüger. [ach 
vorübergehendem Nullwachstum schei- 
nen sich die Energiewachstumsraten 
für die nächsten Jahre bei weniger als 
der Hälfte der prognostizierten 7% ein- 
zupendeln. Das Energieprogramm der 
BRD wurde in kürzester Zeit mehrfach 
nach unten berichtigt. Die Trendrech- 
nungen stellten sich als das heraus, was 
sie waren: Unseriöse Wunschvorstellun- 
gen der Industrie. 
Die Aufnahmefähigkeit des Marktes 
wurde überschätzt. Das Prinzip: Wenn 
kein Bedarf da ist, muß er eben geschaf- 
fen werden, scheint an Grenzen zu Sto- 
ßen. Der Vorgang machte die ganze 
Abhängigkeit der Politik von der Wirt- 
schaft überdeutlich. 
Die Atomenergie 
Zentraler Punkt der Auseinanderset- 
zung ist die Atomenergie. An ihr ent- 
zündete sich weit mehr als ein Streit um 
die Frage, welche Schadstoffabgaben zU 
welchen Wirkungen führen. Diese Aus- 
einandersetzung war die Initialzündung 
für eine Bürgerbewegung, die heute Fra 
gen stellt, die über das eigentliche The- 
ma hinausgehen. Das ist kein Zufall. 
Der Entscheid zur sogenannten ‘fried- 
lichen Nutzung der Kernenergie’ wurde 
geboren aus einer unkritischen Wissen- 
schaftseuphorie und den Gewinnerwar- 
tungen der Industrie, die sich mit dieser 
neuen Technologie verbanden. 
Nirgends auf der Welt, auch nicht bel 
uns, lag dem Entscheid eine demokra- 
tisch legitimierte, politische Willensbil- 
dung zugrunde. Niemand war in den ent- 
scheidenden 50er Jahren — als die Wel- 
chen gestellt wurden — in der Lage, die 
Folgen abzusehen. 
UV
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.