Zur Geschichte der Entwurfsorganisation
Gerhard Fehl
Entwerfen:
Componieren, Konstruieren, Erfinden
Eine Skizze einiger Entwurfsverständnisse in den Zwanziger Jahren
“Würde man eine Anzahl von deutschen
Architekten fragen, was sie unter “Ent-
werfen” verstehen, man würde, wenn über-
haupt eine verständliche, so doch überall
eine anderslautende Antwort erhalten”
(Ostendorf, 1914,1). An der Gültigkeit
dieser Feststellung hat sich mit Sicherheit
bis heute wenig geändert. Was sich aller-
dings seit 1914 geändert hat, ist die Art,
wie “entworfen” wird und wie ‘“’Entwer-
fen’ organisiert wird; welche Bedeutung
dem “Entwerfen” bei der Architektur-
und Städtebauproduktion beigemessen
wird; welches Selbstverständnis Architek-
ten und Städtebauer als ‘’Entwerfer” ha-
ben; kurz: Praxis und Verständnis des
“Entwerfens” haben sich seither gewan-
delt.
Nun kann es wohl eine immergültige,
von den jeweiligen gesellschaftlichen Be-
dingungen absehende Bestimmung des
Begriffs “Entwerfen” sicher gar nicht ge-
ben und wir wollen hier versuchen, die-
sen Wandel des ‘’Entwurfsverständnisses”’
seit der Jahrhundertwende, insbesondere
aber während der ‘Zwanziger Jahre” 1)
nachzuzeichnen.
Eine solche Untersuchung wollen wir
auf zeitgenössischen Aussagen von Archi-
tekten und Städtbauern aufbauen. Wir
müssen dabei berücksichtigen, daß das
Verständnis des ‘““Entwerfens*“ als ‘“ge-
liebtester Berufstätigkeit”” des Architek-
ten und Städtebauers unlösbar verknüpft
ist mit seinem beruflichen Selbstverständ-
nis. Für unsere Untersuchung bedeutet
dies zweierlei: a) daß wir das Entwurfs-
verständnis nur im Zusammenhang des
beruflichen Selbstverständnisses untersu-
chen können; b) daß wir nicht die reale
Entwurfspraxis nachzeichnen können,
denn das berufliche Selbstverständnis
stellt sich in den zeitgenössischen Aussa-
gen dar als eine von gesellschaftlichen
Leitbildern geprägte und aus der persön-
lichen Erfahrung erwachsene berufsspe-
zifische Ideologie, die keineswegs die rea-
le Situation des ‘“Entwerfens’”” beim Bau-
en oder des “Entwerfers’’ in der Gesell-
schaft widerspiegelt, sondern vielmehr
sein durch Wunschträume, stille Hoffnun-
gen, getäuschte Erwartungen, Fluchtver-
suche und Rechtfertigungen vielfältig ge-
brochenes Bild dieser Berufsrealität.
Bei der Durchsicht der zeitgenössischen
Dokumente müssen wir allerdings feststel-
len, daß sich Architekten und Städtebau-
er nur ungern systematisch Gedanken
über das ‘‘Entwerfen”, über ihre Vorge-
hens- und Arbeitsweise, das Zustande-
kommen von Architektur- und Städtebau-
konzepten gemacht haben. Ja manche ha-
ben unter allerlei Vorwänden die Behand-
lung dieses Themas geradezu abgelehnt;
so ruft z.B. Otto Bartning emphatisch
aus: “Glaubt doch nicht, wir sogenannten
‘Schaffenden’ vermöchten mit Worten zu
sagen, wie man’s anfängt, ein gutes Kunst-
werk hervorzubringen!” (Bartning (1948)
1954, 10).
Wir müssen also viel zwischen den Zei-
len lesen, müssen immer wieder weit ver-
streute Brocken zusammentragen, um
schließlich für die Zwanziger Jahre ein
buntscheckiges und z.T. widersprüchli-
ches Bild von Entwurfsverständnis in Ge-
mengelage mit beruflichem Selbstver-
ständnis zu gewinnen. Im Bestreben nach
Übersicht werden wir von der riskanten
Annahme ausgehen, daß sich für jede
Zeit so etwas wie eine charakteristische
Hauptströmung von Entwurfsverständnis
als eine Art breitem gemeinsamen Nenner
aller Buntscheckigkeit rekonstruieren läßt;
ferner, daß neben dieser Hauptströmung
herlaufend, sie ergänzend, attackierend
und befruchtend Nebenströmungen aus-
gemacht werden können, in denen sich
auf Veränderung drängende Momente
spiegeln: retardierende wie progressive.
Nur letztere werden uns hier interessieren.
Im Hinblick auf die stilistisch und tech-
nologisch bedeutsamen Zwanziger Jahre
wollen wir nun fragen: steht hinter dem
Stil des “Neuen Bauens” 2) eigentlich
auch ein neues Entwurfsverständnis? Eine
neue sachliche Vorstellung, was ‘’Entwer-
fen” ist und wie entworfen wird?
These 1 soll hierzu lauten, daß der
Hauptstrom der Vertreter des Neuen Bau-
ens unter der Oberfläche des neuen Stils
und der neuen, technologisch gemeister-
ten Anforderungen von Standardisierung
und Vorfertigung einem Entwurfsver-
ständnis gehuldigt hat, das unmittelbar
aus dem Hauptstrom des Entwurfsver-
ständnisses und beruflichen Selbstver-
ständnis des ausgehenden 19. Jahrhun-
derts abgeleitet war: nämlich dem auf
“Intuition” aufbauenden Entwerfen sei-
tens des “individuellen und autoritären
Baukünstlers”. 3)
Welches nun waren demgegenüber die
progressiven Nebenströmungen?
These 2 lautet, daß hierzu für die Zeit
unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg
in erster Linie das gegen den Individualis-
mus und das intuitive Vorgehen gewandte
“kooperative und objektivistische” (d.h.
versachlichte) Entwurfsverständnis der
Konsturktivisten 4) zu rechnen ist; und
ferner gegen Ende der Zwanziger Jahre
angesichts der sich polarisierenden poli-
tischen Lage das gegen die Autorität der
Architekten und “Architektur als Bau-
kunst” gewandte “kollektive (d.h. Bau-
/eute und Nutzer einbeziehende) und po-
litikbezogene” Entwurfsverständnis, wie
es vor allem von Hannes Meyer vertreten
wurde. Beide Entwurfsverständnisse grün-
den auf einer quasi-wissenschaftlichen
Vorgehensweise beim Entwerfen.
Welches Gewicht müssen wir diesen bei-
den Nebenströmungen der Zwanziger
Jahre nun beimessen?
These 3 besagt, daß sie beide zunächst
nicht viel mehr waren, als “programmati-
sche Vorgriffe”, bei denen die Verfechter
die “Zeichen der Zeit” — die zunehmende
Mechanisierung, erweiterte Industrialisie-
rung und verschärfte Kapitalverwertung
mit ihrem immer stärkeren Zwang zu Ra-
tionalisierung, Arbeitsteilung und EFfizi-
enzsteigerung und der daraus hervorge-
henden verstärkten Entfremdung und
Entsubjektivierung — richtig erkannten
und schlüssig (wenn auch programmatisch
verzerrt) auf die Berufsituation von Ar-
chitekten und Städtebauern bezogen. Als
“programmatische Vorgriffe‘“ konnten sie
unter den gesellschaftlichen Bedingungen
der Zwanziger Jahre noch kaum erwarten,
als Hauptströmung zum Tragen zu kom-
men; sie blieben Nebenströmungen, gerie-
ten in Vergessenheit, bis dann nach dem
Zweiten Weltkrieg die gesellschaftlichen
Bedingungen das baukünstlerische indivi-
duell-intuitive Entwurfsverständnis als
Hauptströmung langsam vom Sockel
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