Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1978, Jg. 10, H. 37-42)

Zur Geschichte der Entwurfsorganisation 
Gerhard Fehl 
Entwerfen: 
Componieren, Konstruieren, Erfinden 
Eine Skizze einiger Entwurfsverständnisse in den Zwanziger Jahren 
“Würde man eine Anzahl von deutschen 
Architekten fragen, was sie unter “Ent- 
werfen” verstehen, man würde, wenn über- 
haupt eine verständliche, so doch überall 
eine anderslautende Antwort erhalten” 
(Ostendorf, 1914,1). An der Gültigkeit 
dieser Feststellung hat sich mit Sicherheit 
bis heute wenig geändert. Was sich aller- 
dings seit 1914 geändert hat, ist die Art, 
wie “entworfen” wird und wie ‘“’Entwer- 
fen’ organisiert wird; welche Bedeutung 
dem “Entwerfen” bei der Architektur- 
und Städtebauproduktion beigemessen 
wird; welches Selbstverständnis Architek- 
ten und Städtebauer als ‘’Entwerfer” ha- 
ben; kurz: Praxis und Verständnis des 
“Entwerfens” haben sich seither gewan- 
delt. 
Nun kann es wohl eine immergültige, 
von den jeweiligen gesellschaftlichen Be- 
dingungen absehende Bestimmung des 
Begriffs “Entwerfen” sicher gar nicht ge- 
ben und wir wollen hier versuchen, die- 
sen Wandel des ‘’Entwurfsverständnisses”’ 
seit der Jahrhundertwende, insbesondere 
aber während der ‘Zwanziger Jahre” 1) 
nachzuzeichnen. 
Eine solche Untersuchung wollen wir 
auf zeitgenössischen Aussagen von Archi- 
tekten und Städtbauern aufbauen. Wir 
müssen dabei berücksichtigen, daß das 
Verständnis des ‘““Entwerfens*“ als ‘“ge- 
liebtester Berufstätigkeit”” des Architek- 
ten und Städtebauers unlösbar verknüpft 
ist mit seinem beruflichen Selbstverständ- 
nis. Für unsere Untersuchung bedeutet 
dies zweierlei: a) daß wir das Entwurfs- 
verständnis nur im Zusammenhang des 
beruflichen Selbstverständnisses untersu- 
chen können; b) daß wir nicht die reale 
Entwurfspraxis nachzeichnen können, 
denn das berufliche Selbstverständnis 
stellt sich in den zeitgenössischen Aussa- 
gen dar als eine von gesellschaftlichen 
Leitbildern geprägte und aus der persön- 
lichen Erfahrung erwachsene berufsspe- 
zifische Ideologie, die keineswegs die rea- 
le Situation des ‘“Entwerfens’”” beim Bau- 
en oder des “Entwerfers’’ in der Gesell- 
schaft widerspiegelt, sondern vielmehr 
sein durch Wunschträume, stille Hoffnun- 
gen, getäuschte Erwartungen, Fluchtver- 
suche und Rechtfertigungen vielfältig ge- 
brochenes Bild dieser Berufsrealität. 
Bei der Durchsicht der zeitgenössischen 
Dokumente müssen wir allerdings feststel- 
len, daß sich Architekten und Städtebau- 
er nur ungern systematisch Gedanken 
über das ‘‘Entwerfen”, über ihre Vorge- 
hens- und Arbeitsweise, das Zustande- 
kommen von Architektur- und Städtebau- 
konzepten gemacht haben. Ja manche ha- 
ben unter allerlei Vorwänden die Behand- 
lung dieses Themas geradezu abgelehnt; 
so ruft z.B. Otto Bartning emphatisch 
aus: “Glaubt doch nicht, wir sogenannten 
‘Schaffenden’ vermöchten mit Worten zu 
sagen, wie man’s anfängt, ein gutes Kunst- 
werk hervorzubringen!” (Bartning (1948) 
1954, 10). 
Wir müssen also viel zwischen den Zei- 
len lesen, müssen immer wieder weit ver- 
streute Brocken zusammentragen, um 
schließlich für die Zwanziger Jahre ein 
buntscheckiges und z.T. widersprüchli- 
ches Bild von Entwurfsverständnis in Ge- 
mengelage mit beruflichem Selbstver- 
ständnis zu gewinnen. Im Bestreben nach 
Übersicht werden wir von der riskanten 
Annahme ausgehen, daß sich für jede 
Zeit so etwas wie eine charakteristische 
Hauptströmung von Entwurfsverständnis 
als eine Art breitem gemeinsamen Nenner 
aller Buntscheckigkeit rekonstruieren läßt; 
ferner, daß neben dieser Hauptströmung 
herlaufend, sie ergänzend, attackierend 
und befruchtend Nebenströmungen aus- 
gemacht werden können, in denen sich 
auf Veränderung drängende Momente 
spiegeln: retardierende wie progressive. 
Nur letztere werden uns hier interessieren. 
Im Hinblick auf die stilistisch und tech- 
nologisch bedeutsamen Zwanziger Jahre 
wollen wir nun fragen: steht hinter dem 
Stil des “Neuen Bauens” 2) eigentlich 
auch ein neues Entwurfsverständnis? Eine 
neue sachliche Vorstellung, was ‘’Entwer- 
fen” ist und wie entworfen wird? 
These 1 soll hierzu lauten, daß der 
Hauptstrom der Vertreter des Neuen Bau- 
ens unter der Oberfläche des neuen Stils 
und der neuen, technologisch gemeister- 
ten Anforderungen von Standardisierung 
und Vorfertigung einem Entwurfsver- 
ständnis gehuldigt hat, das unmittelbar 
aus dem Hauptstrom des Entwurfsver- 
ständnisses und beruflichen Selbstver- 
ständnis des ausgehenden 19. Jahrhun- 
derts abgeleitet war: nämlich dem auf 
“Intuition” aufbauenden Entwerfen sei- 
tens des “individuellen und autoritären 
Baukünstlers”. 3) 
Welches nun waren demgegenüber die 
progressiven Nebenströmungen? 
These 2 lautet, daß hierzu für die Zeit 
unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg 
in erster Linie das gegen den Individualis- 
mus und das intuitive Vorgehen gewandte 
“kooperative und objektivistische” (d.h. 
versachlichte) Entwurfsverständnis der 
Konsturktivisten 4) zu rechnen ist; und 
ferner gegen Ende der Zwanziger Jahre 
angesichts der sich polarisierenden poli- 
tischen Lage das gegen die Autorität der 
Architekten und “Architektur als Bau- 
kunst” gewandte “kollektive (d.h. Bau- 
/eute und Nutzer einbeziehende) und po- 
litikbezogene” Entwurfsverständnis, wie 
es vor allem von Hannes Meyer vertreten 
wurde. Beide Entwurfsverständnisse grün- 
den auf einer quasi-wissenschaftlichen 
Vorgehensweise beim Entwerfen. 
Welches Gewicht müssen wir diesen bei- 
den Nebenströmungen der Zwanziger 
Jahre nun beimessen? 
These 3 besagt, daß sie beide zunächst 
nicht viel mehr waren, als “programmati- 
sche Vorgriffe”, bei denen die Verfechter 
die “Zeichen der Zeit” — die zunehmende 
Mechanisierung, erweiterte Industrialisie- 
rung und verschärfte Kapitalverwertung 
mit ihrem immer stärkeren Zwang zu Ra- 
tionalisierung, Arbeitsteilung und EFfizi- 
enzsteigerung und der daraus hervorge- 
henden verstärkten Entfremdung und 
Entsubjektivierung — richtig erkannten 
und schlüssig (wenn auch programmatisch 
verzerrt) auf die Berufsituation von Ar- 
chitekten und Städtebauern bezogen. Als 
“programmatische Vorgriffe‘“ konnten sie 
unter den gesellschaftlichen Bedingungen 
der Zwanziger Jahre noch kaum erwarten, 
als Hauptströmung zum Tragen zu kom- 
men; sie blieben Nebenströmungen, gerie- 
ten in Vergessenheit, bis dann nach dem 
Zweiten Weltkrieg die gesellschaftlichen 
Bedingungen das baukünstlerische indivi- 
duell-intuitive Entwurfsverständnis als 
Hauptströmung langsam vom Sockel 
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