‘Schwerpunkt
Manfredo Tafuri
Die Kritik der Architektursprache und
die Sprache der Architekturkritik
(L’Architecture dans le Boudoir)
Tafuri’s Essay geht auf einen Vortrag mit
dem Titel “ L ‘Architecture dans le Bou-
doir: II linguaggio della critica e la critica
del linguaggio” zurück, gehalten an der
Princeton University (USA) im April
1974. Er wurde zuerst in der von Peter
Eisenman ‚ Kenneth Frampton, Mario
Gandelsonas herausgegeben, amerkani-
schen Zeitschrift OPPOSITIONS Mai
1974 veröffentlicht und erscheint hier
zum ersten Mal in deutscher Sprache.
Die Verarbeitung von Restmaterialien,
Abfallprodukten und Weggeworfenem ist
ein integraler Bestandteil der Tradition der
modernen Kunst, so als geschähe eine ma-
gische Verwandlung der Dinge in qualita-
tiv wertvolle, dadurch, daß der Künstler
in eine Beziehung zu der Welt der Dinge
tritt. Kein Wunder, daß heute, wenn es um
die Rettung der architekturbezogenen Wer-
te geht und wenn in dieser Aufgabe das we-
sentliche Anliegen der Architektur erkannt
wird, das einzige Mittel in der Verwendung
von ““Kriegsüberresten‘, bzw. in der Ver-
wendung dessen gesehen wird, was nach
der Niederlage der Modernen Bewegung
auf dem Schlachtfeld zurückgeblieben ist.
So treten die neuen ‘Ritter des Purismus”
mit den Fragmenten einer Utopie in die
Debatte ein, einer Utopie aber, die sie selbst
nicht mehr erkennen können.
Derjenige, der der Architektur heute wie-
der zum sprechen verhelfen will, ist ge-
zwungen, jede Architekturideologie, alle
Träume von sozialen Funktionen und jeden
Rest einer Utopie auszutilgen. In seinen
Händen werden die Elemente aus der Tra-.
dition der modernen Architektur zu rätsel-
haften Fragmenten reduziert, zu stummen
Zeichen einer Sprache ohne Code, deren
Bedeutung nach Belieben über die Weite
der Geschichte verstreut ist.
Jene Architekten, die seit Ende der 50er
Jahre bis heute versucht haben, einen ge-
meinsamen Diskurs für ihre Disziplin neu
herzustellen, haben auch die Notwendig-
keit für die Herstellung eines neuen Sinnzu-
sammenhanges empfunden. Ihr Purismus
oder ihre Rigorosität erinnert jedoch an
eine Verzweiflungstat, die ihre Rechtfer-
tigung nur in sich selbst finden kann. Die
Wörter ihres Vokabulars sind zusammenge-
sucht in der desolaten Landschaft, die ih-
nen nach der Zerstörung ihrer großen II-
lusionen verblieben ist; sie liegen gefähr-
lich auf der geneigten Ebene, zwischen der
Wirklichkeit und dem magischen Zirkel
der Sprache. Genau diese Art von Rettungs-
aktion der Architektur ist es, die wir mit
der Kritik der Sprache konfrontieren wol-
len: demnach bedeutet die bewußte Ein-
ordnung solcher antihistorischen Versuche
in den historischen Zusammenhang nichts
anderes als eine zielstrebige Rekonstrukti-
on des Systems methaphorischer Doppel-
deutigkeiten, die allzu offensichtlich zu
problematisch sind, um sie weiter als ‘be-
unruhigende Wesen” isoliert für sich zu
stehen zu lassen.
Wir müssen den Leser jedoch davor war-
nen, daß wir nicht die Absicht haben, hier
eine Übersicht über die neueren architekto:
nischen Richtungen zu geben. Stattdessen
möchten wir die Aufmerksamkeit auf eini-
ge besonders wichtige Grundhaltungen
richten, wobei wir uns fragen wollen, wel-
che Rolle die Kritik einzunehmen hat.
fan
James Stirling mit Leon Krier: Entwurf für das Bürgerzentrum in Derby ‚1970
Frank Lioyd Wright: Bürogebäude der S.C. Johnson & Son Company,
1936, Brücke aus Pyrex-Säulen über der Einfahrt