Zur Diskussion
L. Böttcher, E. Fricke, P. v. Kodolitsch, B. Leber, H. P. Richter, J. Schulz z. Wiesch
„Strategien für Kreuzberg“
Bericht der Vorprüfergruppe über den Wettbewerb
Die Symptome der ‚„‚Kreuzberger Krank-
heit“ 1) sind nicht neu und sie sind auch
keine Berliner Spezialität. Sie wiederho-
len sich vielmehr in vielen anderen Städ-
ten: die Bausubstanz der alten Innen-
stadtbezirke verkommt, weil die Instand-
setzung lange vernachlässigt und die Mo-
dernisierung unterlassen wurde; diejeni-
gen der alteingesessenen Bevölkerung,
die es sich leisten können, ziehen weg
und machen Gastarbeitern Platz. So
bleiben schließlich nur noch jene im
Quartier, die auf billigen Wohnraum an-
gewiesen sind: Alte, Gastarbeiter, jene,
die am Rander der ‚„‚Wohlstandsgesell-
schaft‘ leben müssen. Diese „Verschlech-
terung‘ der Bevölkerungsstruktur wirkt
sich auf das örtliche Gewerbe und auf
die Investitionsbereitschaft der Hausei-
gentümer aus. Das Quartier wird ökono-
Misch uninteressant und verkommt da-
her immer weiter.
Die „Kreuzberger Krankheit” unter-
scheidet sich nur insofern von der ent-
sprechender Quartiere anderer Städte,
als hier die Probleme besonders krass zu
Tage treten. Denn die Teilung Berlins
hat diesen alten Stadtbezirk von der
Früheren City Berlins abgeschnitten, hat
ihn an den Rand West-Berlins gedrängt.
Kreuzberg unterscheidet sich hier in
SO 36, in dem Quartier rund um den
ehemaligen Görlitzer Bahnhof, noch in
anderer Hinsicht von anderen westdeut-
schen Innenstädten: hier wurde mit den
„Strategien für Kreuzberg“ ein Experi-
Ment zur Revitalisierung eines Stadtteils
9ewagt, das — sollte es gelingen — eine
Alternative. zu der üblichen „Sanierung“
nach dem StBauFG zu bieten vermag.
ZUR VORGESCHICHTE DER
„STRATEGIEN FÜR KREUZBERG“
Das Dilemma der bisherigen Sanierungs-
Draxis
In den Problemen alter Stadtquar-
tiere manifestiert sich die Unzulänglich-
keit des bisher eingesetzten Instrumenta-
riums. Die Frage nach angemessenen Er-
NEUErUNGsstrategien für überalterte Wohn-
Quartiere ist gegenwärtig noch nicht be-
Friedigend beantwortet.
Die Sanierung von Altbaugebieten in
Berlin hat seit Einleitung des ersten
Stadterneuerungsprogramms 1963 zum
weitaus größten Teil aus Abriß und Neu-
bau bestanden. Der Anteil der in Berli-
ner Sanierungsgebieten bis Dezember
1973 erneuerten im Vergleich zu den
abgerissenen Altbauten beträgt gerade
0,8 %. 2)
Diese Erneuerungspraxis geriet in
ein quantitatives Mißverhältnis zwi-
schen Erneuerungsbedarf und Erneue-
rungstempo: Trotz eines vergleichswei-
se hohen Sanierungsvolumens in Berlin
läuft der Alterungs- und Verfallsprozeß
der Erneuerungsplanung davon.3) Selbst
im Falle einer Realisierung des ersten
Berliner Stadterneuerungsprogramms
mit rund 60.000 WE bis zum Jahr
2000 würde sich allein in den sechs in-
nerstädtischen Berliner Bezirken die
Zahl der sanierungsbedürftigen Altbau-
wohnungen, die älter als 75 Jahre sind,
von derzeit rund 200.000 auf rund
340.000 erhöhen 4), Dieses Volumen
wäre auch mit einer forcierten Sanie-
rung nach dem StBauFG nicht zu be-
wältigen.
Die finanziellen und verfahrensmäßi-
gen Engpässe der traditionellen Sanie-
rungspraxis, ihre unerwünschten Neben-
folgen und Konflikte sowie die gewalti-
gen Dimensionen des Erhaltungspro-
blems machen die Suche nach alternati-
ven oder komplementären Lösungswegen
zur dringlichen Aufgabe der Stadtent-
wicklungspolitik.
Hier versuchten die Initiatoren des
Wettbewerbs „Strategien für Kreuzberg“
(insbesondere der Kreuzberger Pfarrer
Duntze) anzusetzen, indem sie sich aus-
drücklich nicht auf eine Sanierung nach
dem StBauFG festlegten, sondern eine
„Revitalisierung‘ des Quartiers mit an-
deren Mitteln und aus eigener Kraft an-
strebten.
Zur Durchsetzung der „Strategien für
Kreuzberg“
Das Projekt „Strategien für Kreuz-
berg“ stieß zum Zeitpunkt seiner Pla-
nung und Ausschreibung zwar in ein
planerisches Vakuum, rief aber dennoch
den Widerstand der „Sanierer‘ und
„„Entwicklungsplaner‘“ beim Senator für
Bau- und Wohnungswesen hervor. Dort
galt das Gebiet um den Görlitzer Bahn-
hof als dasjenige, das die gravierendsten
Mißstände in ganz Berlin aufwies, und
das Gebiet nördlich des Bahnhofs wur-
de sogar als „Sanierungsverdachtsge-
biet‘ in das 2. Stadterneuerungspro-
gramm aufgenommen. Doch angesichts
der knappen Finanzen des Landes Ber-
lin blieb völlig offen, wann dieses Ge-
biet Gegenstand von ‚‚Vorbereitenden
Untersuchungen‘ nach dem StBauFG
werden sollte, und das Quartier südlich
des Bahnhofs, das kaum geringere Miß-
stände aufweist, konnte erst gar nicht in
das 2. Stadterneuerungsprogramm auf-
genommen werden.
Trotz dieser Lage waren die „Sanierer”
und „Entwicklungsplaner”’ nicht bereit zu
akzeptieren, daß der rapide Verfall des
Gebietes dazu nötigte, nicht erst die Er-
gebnisse langwieriger und schwieriger Pla-
nungsprozesse abzuwarten. Um den Ver-
fall zu stoppen, mußten Maßnahmen er-
griffen werden, bevor die Ziele und Not-
wendigkeiten der künftigen Sanierungs-
und Stadtentwicklungsplanung nach regio-
nalen und zeitlichen Prioritäten differen-
ziert und aufeinander abgestimmt werden
konnten.
Obwohl die „Strategien für Kreuzberg”
gegen den Widerstand der „,Sanierer’” und
„Entwicklungsplaner’”” beim Bausenator
politisch durchgesetzt werden konnten
(die Initiatoren des Wettbewerbs fanden
vor allem die Unterstützung der Kreuz-
berger SPD), blieb der grundsätzliche Kon-
flikt ungelöst. Auslober und Betreiber des
Vorhabens gingen nach wie vor von zwei
recht unterschiedlichen Zielsetzungen aus:
Der Auslober sieht in den ‚Strategien
für Kreuzberg” vor allem einen für ihn
unverbindlichen Ideenwettbewerb, wäh-
rend die Betreiber hier eine Chance se-
hen, über die Entwicklung neuer Ideen zu
einem Verbesserungskonzept zu kommen,
das sich vom herkömmlichen Sanierungs-
verfahren unterscheidet, das sich auch
baulich-räumlich und nicht nur im sozia-
len Bereich ausdrückt, wie es der Auslo-
ber erwartete.
Der Ausschreibungstext spiegelte die-
sen ungelösten Konflikt wider. Der Auslo-
ber, so wird dort formuliert, verzichtete
bewußt „auf eine einheitliche Abstim-
mung bei der Einschätzung des Gebietes’’
und unter den „‚Zielvorstellungen”” wur-
den die ‚zum Teil.konträren Ziele und
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