führen. Es offenbart sich ein Rausch des
Emporsteigens und Genießens in lichten
Höhen.
Die Bauten sind da weit offen, Trep-
pen und Galerien Teile des Außenraumes,
Teile der Landschaft, eines gemeinsamen,
öffentlichen Umraumes. In den realisier-
ten Werken der Philharmonie und der Bib-
liothek haben sich die visionären Treppen
und Stege ins Innere verzogen, sind — mit
der Ausnahme des Theaterentwurfs für
Kassel — nur in den Innenräumen mög-
lich geworden.
Damit kommen wir zu einem weiteren
Punkt. Scharoun, so erscheint es mir, hat
immer in Stadträumen entworfen und
gedacht, aber in seinen beiden großartig-
sten Bauten hat er es sich versagt, sie zu
einem stadträumlichen Teil werden zu
lassen. Sie sind Inseln, die sich fast be-
ziehungslos gegenüberliegen. Sie haben
statt dessen, Teile der Stadt in sich auf-
genommen, Stadt in ihren Innenräumen
reproduziert.
Bei den Theatern für Kassel und
Mannheim sollte der Bau ein unverrück-
barer Bestandteil der Stadt werden: in
Kassel wurden Teile des alten Theaters
und eine Parklandschaft auf verschiede-
nen Ebenen in den Bau mit einbezogen,
in Mannheim waren die zwei Richtungen
des Stadtrasters und der schräg dazu lie-
genden Umgebung im Entwurf aufgenom
men, ja, wie bei einem Zusammensteck-
spiel Negativformen der Randbebauung
im Bau als Positivformen vorhanden.
Trotzdem waren damit nicht Zwänge
eingebaut: der Kasseler Bau z.B. sollte
wieder den Blick in die Landschaft frei-
geben.
Scharoun hat im ersten Entwurf der
Philharmonie vor der Mathäi-Kirche
einen Platz (Piazza) entworfen, der durch
einen trapezförmigen Kammermusiksaal
eine eindeutige Raumkante erhielt. Kon-
zerthaus und Kirche bildeten zwei Pole
eines bürgerlichen Forums mit Arkaden:
ein Stadtbautyp des 18. Jahrhunderts.
Im neuen Plan wird diese Piazza zu
einem Fragment, das terrassierte Gäste-
haus mit einer gerade abgeschnittenen
Querseite konfrontiert den nun viel-
eckig konzipierten Kammermusiksaal;
die Bauten sind isolierter als zuvor. Phil-
harmonie und Bibliothek sind kein Teil
eines öffentlichen Außenraumes und
Außenlebens; an ihnen kann man weder
flanieren, noch zwischen ihnen Feste
feiern, man kann sie nur umfahren. Sie
sind nicht Teil eines städtischen Raumes,
dessen Rand sie bilden und für den sie
Szenerie sein könnten.
Ist Scharouns Begriff „Stadtland-
schaft” — in der sich die ‘einzelnen
Objekte in ihrem Ausdruckwillen nicht
behindern sollen’? — nur Resignation
über eine verkorkste Situation in Berlin?
Oder hatte Scharoun eine Scheu vor
einer Wiederbelebung einer bürgerli-
chen Stadtform aus Repräsentationsbau-
ten und Plätzen mit autoritären Ord-
nungen und Achsen, wie er es 1920 für
die Gelsenkirchener „‚Wiese’’ mit Volks-
haus und Theater noch selber entwarf?
Stadtraum mit Architekturplätzen:
Ja, aber nur fraamentarisch oder verwan-
delt (Mehringplatz). Stadtfragmente: ja
aber nur dort, wo sie auch eine soziale
Funktion noch erfüllen können: in den
Kulturbauten, nicht außerhalb.
Was Marc Fester und Nikolaus Kuh-
nert zusammenfassend von den Rationa
listen sagten®, kann man bei Scharoun
als Entwurf ebenso feststellen: ‚,die ver
lorengegangene Einheit der Stadt wird
durch städtische Strukturen in den ar-
chitektonischen Einheiten kompen-
siert’ — allerdings sind das nicht klassi-
zistische, eher mittelalterliche Struktu-
ren. Und man müßte ergänzen: die ver-
'orene Gemeinschaft in der Stadt (oder
die miRßbrauchte Gemeinsamkeit auf ih-
ren Aufmarschplätzen) wird in den bür-
gerlichen Großbauten der Bildung zu
rekonstruieren versucht.
Daß dabei die Träume, ja die sozia-
len Hoffnungen von Stadtkrone und
Volkshaus immer wieder durchscheinen
gibt dem Werk Scharouns den Glanz
der Utopie, der auch durch empfindli-
che Eingriffe bei der Vollendung der
Staatsbibliothek nicht erlischt.
druck 1977. S. 62.
H. SCHAROUN, ibıd, S. 26.
Bei der Beschreibung des Gelsenkirchener
Entwurfs, 1920, betont er diesen (auch
von Bruno TAUT oder Walter GROPIUS
geforderten) Bezug zur mittelalterlichen
Stadt: „‚Es gilt auch in unseren Tagen wie-
der im Sinne der Gotik Stätten der Ge-
meinschaft und zugleich Stadtwahrzeichen
zu schaffen, zu denen Gesicht und Herzen
der Bewohner gerichtet sind, an dessen Er-
bauung und Entstehen sie mit Hand und
Herz Anteil haben.” S. 26.
Aus dem Vortrag anläßlich der Ausstellung
„Berlin plant — erster Bericht”, 1946.
DESK TTEEEE Ss. 161. .
Die Schaffung von Pdlaritäten und die Ge-
staltung der Übergänge zwischen ihnen,
nicht als Grenzen, sondern als eigene Be-
reiche (ausgestülpte Eingänge, Vorbereiche
der Kleiderablagen in den Schulen, in
Darmstadt als „„Tor’’ bezeichnet, die
schier endlose ‚„‚Modulation’’ von Raum-
und Begegnungsereignissen zwischen Ein-
gang und Theatersaal in Kassel, etc.) sieht
Scharoun in der mittelalterlichen Stadt
vorgebildet und als ein Charakteristikum
„deutscher Kunst”: „,Die Eigenart dieser
Betonung der Übergänge ist ja überhaupt
ein Wahrzeichen deutsgher Kunst, beson-
ders der deutschen Musik” (H. Scharoun,
ibid, S. 161). Vielleicht meinte er damit
Richard Wagner?
7) Erläuterungsbericht zum Wettbewerbsent-
1) Hans SCHAROUN. Herausgegeben von Pe- wurf der Staatsbibliothek. H. SCHAROUN.
ter PFANKUCH. Schriftenreihe der Akade- ibid. S..329.,
mie der Künste, Berlin 1974, S. 352. 8) ARCH+ Nr. 37. Vorwort.
2) Bruno TAUT. Die Stadtkrone. Wieder-
5)
Dieter Hoffmann-Axthelm
Architektur als
Geschichtsfälschung.
Zur geplanten Neuerrichtung des Ephraim-Palais.
Man tut sich überall schwer mit der
Stadtgeschichte. Aber was bei dem
stadtplanerischen und architektonischen
Bewältigungsversuch herauskommt, ist
nirgendwo so schnell aus dem Gleich-
gewicht wie in Berlin. Da ist drei Jahr-
zehnte lang planiert worden — die
Kriegszerstörungen waren die Chance,
die historische Stadt loszuwerden und
durch eine rationale Flächenplanung zu
ersetzen. Als wäre das nicht genug, wur-
den unter dem Stichwort Sanierung gan-
ze Viertel abgerissen, eine Abrißmasse
insgesamt, die inzwischen den Kriegs-
zerstörungen schon gleichkommt. Wie
unter einer riesigen Walze verschwand
in dieser dreißigjährigen Abrißarbeit al-
les, was daran erinnern könnte, daß es
eine Vorgeschichte gegeben hat: barok:
ke Palais, klassizistische Wohnbauten,
preußische Staatsbauten von unwider-
bringlicher Qualität wie Bahnhöfe,
Feuerwehrdepots, Schulen, ebenso
Wirtschaftsbauten wie Lagerhallen, Fa-
brikgebäude; es wurden ganze Ord-
nungsmuster der historischen Stadt
durch Tiefbauer zerstört, die wie auf
freiem Felde Schnellstraßenzüge in ge-
fälligen Fünfziger-Jahre-Kurven legten,
fast sämtliche bürgerlichen Plätze zer-
störten, jegliche historische Verkehrs-
orientierung ebenso kaputt machten wie
die symmetrischen Straßenperspektiven
des 19. Jahrhunderts: es wurden Hafen-
becken zugeschüttet, Betonplatten von
beliebiger Breite als Brücken über den
Landwehrkanal gelegt, Ufer betoniert;
auf jahrhundertealte barocke Blickach-
sen wurden Hochhäuser gestellt und
fast alle Schlüsselpunkte der jüngeren
deutschen Geschichte wurden im Inter-
esse der Bewältigung ausgetilgt mit
Stumpf und Stiel, bis der letzte Mauer-
rest verschwunden war.
Inzwischen ist Geschichte zur Mode
geworden. Der Staat sieht an sich herab
und findet sich nackt und bloß. Ge-
schichte muß her wie Mantel und Schlep-
pe: etwas im Rücken möchte man haben,
etwas sichtbare Gloria.
Fehlen da nicht eben die wirklichen
historischen Orte, Straßenführungen,
Ruinen und Plätze, die man zuvor so
überaus gründlich beseitigt hat? Man
sollte es meinen, aber so ist es nicht. Das
Gelände ist in dem Maße ideal, wie es
leer, und ungeeignet, wie es bebaut ist:
das wenigstens ist der Eindruck, der sich
aus den bisher veröffentlichten Planun-
gen zum Wiederaufbau der südlichen
Friedrichstadt und der angrenzenden Vier-
tel im Rahmen der Internationalen Bau-
ausstellung 1984 ergibt. Die neue Ge-
schichtsbeschaffung ist genauso gründ-
lich, wie es die alte Flächenbeschaffung
bzw. Geschichtebeiseiteschaffung bisher
war. Es gibt da nicht den geringsten Wi-
derspruch. Im Geaenteil, beides arbeitet
1“