Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1979, Jg. 11, H. 43-47, [48])

führen. Es offenbart sich ein Rausch des 
Emporsteigens und Genießens in lichten 
Höhen. 
Die Bauten sind da weit offen, Trep- 
pen und Galerien Teile des Außenraumes, 
Teile der Landschaft, eines gemeinsamen, 
öffentlichen Umraumes. In den realisier- 
ten Werken der Philharmonie und der Bib- 
liothek haben sich die visionären Treppen 
und Stege ins Innere verzogen, sind — mit 
der Ausnahme des Theaterentwurfs für 
Kassel — nur in den Innenräumen mög- 
lich geworden. 
Damit kommen wir zu einem weiteren 
Punkt. Scharoun, so erscheint es mir, hat 
immer in Stadträumen entworfen und 
gedacht, aber in seinen beiden großartig- 
sten Bauten hat er es sich versagt, sie zu 
einem stadträumlichen Teil werden zu 
lassen. Sie sind Inseln, die sich fast be- 
ziehungslos gegenüberliegen. Sie haben 
statt dessen, Teile der Stadt in sich auf- 
genommen, Stadt in ihren Innenräumen 
reproduziert. 
Bei den Theatern für Kassel und 
Mannheim sollte der Bau ein unverrück- 
barer Bestandteil der Stadt werden: in 
Kassel wurden Teile des alten Theaters 
und eine Parklandschaft auf verschiede- 
nen Ebenen in den Bau mit einbezogen, 
in Mannheim waren die zwei Richtungen 
des Stadtrasters und der schräg dazu lie- 
genden Umgebung im Entwurf aufgenom 
men, ja, wie bei einem Zusammensteck- 
spiel Negativformen der Randbebauung 
im Bau als Positivformen vorhanden. 
Trotzdem waren damit nicht Zwänge 
eingebaut: der Kasseler Bau z.B. sollte 
wieder den Blick in die Landschaft frei- 
geben. 
Scharoun hat im ersten Entwurf der 
Philharmonie vor der Mathäi-Kirche 
einen Platz (Piazza) entworfen, der durch 
einen trapezförmigen Kammermusiksaal 
eine eindeutige Raumkante erhielt. Kon- 
zerthaus und Kirche bildeten zwei Pole 
eines bürgerlichen Forums mit Arkaden: 
ein Stadtbautyp des 18. Jahrhunderts. 
Im neuen Plan wird diese Piazza zu 
einem Fragment, das terrassierte Gäste- 
haus mit einer gerade abgeschnittenen 
Querseite konfrontiert den nun viel- 
eckig konzipierten Kammermusiksaal; 
die Bauten sind isolierter als zuvor. Phil- 
harmonie und Bibliothek sind kein Teil 
eines öffentlichen Außenraumes und 
Außenlebens; an ihnen kann man weder 
flanieren, noch zwischen ihnen Feste 
feiern, man kann sie nur umfahren. Sie 
sind nicht Teil eines städtischen Raumes, 
dessen Rand sie bilden und für den sie 
Szenerie sein könnten. 
Ist Scharouns Begriff „Stadtland- 
schaft” — in der sich die ‘einzelnen 
Objekte in ihrem Ausdruckwillen nicht 
behindern sollen’? — nur Resignation 
über eine verkorkste Situation in Berlin? 
Oder hatte Scharoun eine Scheu vor 
einer Wiederbelebung einer bürgerli- 
chen Stadtform aus Repräsentationsbau- 
ten und Plätzen mit autoritären Ord- 
nungen und Achsen, wie er es 1920 für 
die Gelsenkirchener „‚Wiese’’ mit Volks- 
haus und Theater noch selber entwarf? 
Stadtraum mit Architekturplätzen: 
Ja, aber nur fraamentarisch oder verwan- 
delt (Mehringplatz). Stadtfragmente: ja 
aber nur dort, wo sie auch eine soziale 
Funktion noch erfüllen können: in den 
Kulturbauten, nicht außerhalb. 
Was Marc Fester und Nikolaus Kuh- 
nert zusammenfassend von den Rationa 
listen sagten®, kann man bei Scharoun 
als Entwurf ebenso feststellen: ‚,die ver 
lorengegangene Einheit der Stadt wird 
durch städtische Strukturen in den ar- 
chitektonischen Einheiten kompen- 
siert’ — allerdings sind das nicht klassi- 
zistische, eher mittelalterliche Struktu- 
ren. Und man müßte ergänzen: die ver- 
'orene Gemeinschaft in der Stadt (oder 
die miRßbrauchte Gemeinsamkeit auf ih- 
ren Aufmarschplätzen) wird in den bür- 
gerlichen Großbauten der Bildung zu 
rekonstruieren versucht. 
Daß dabei die Träume, ja die sozia- 
len Hoffnungen von Stadtkrone und 
Volkshaus immer wieder durchscheinen 
gibt dem Werk Scharouns den Glanz 
der Utopie, der auch durch empfindli- 
che Eingriffe bei der Vollendung der 
Staatsbibliothek nicht erlischt. 
druck 1977. S. 62. 
H. SCHAROUN, ibıd, S. 26. 
Bei der Beschreibung des Gelsenkirchener 
Entwurfs, 1920, betont er diesen (auch 
von Bruno TAUT oder Walter GROPIUS 
geforderten) Bezug zur mittelalterlichen 
Stadt: „‚Es gilt auch in unseren Tagen wie- 
der im Sinne der Gotik Stätten der Ge- 
meinschaft und zugleich Stadtwahrzeichen 
zu schaffen, zu denen Gesicht und Herzen 
der Bewohner gerichtet sind, an dessen Er- 
bauung und Entstehen sie mit Hand und 
Herz Anteil haben.” S. 26. 
Aus dem Vortrag anläßlich der Ausstellung 
„Berlin plant — erster Bericht”, 1946. 
DESK TTEEEE Ss. 161. . 
Die Schaffung von Pdlaritäten und die Ge- 
staltung der Übergänge zwischen ihnen, 
nicht als Grenzen, sondern als eigene Be- 
reiche (ausgestülpte Eingänge, Vorbereiche 
der Kleiderablagen in den Schulen, in 
Darmstadt als „„Tor’’ bezeichnet, die 
schier endlose ‚„‚Modulation’’ von Raum- 
und Begegnungsereignissen zwischen Ein- 
gang und Theatersaal in Kassel, etc.) sieht 
Scharoun in der mittelalterlichen Stadt 
vorgebildet und als ein Charakteristikum 
„deutscher Kunst”: „,Die Eigenart dieser 
Betonung der Übergänge ist ja überhaupt 
ein Wahrzeichen deutsgher Kunst, beson- 
ders der deutschen Musik” (H. Scharoun, 
ibid, S. 161). Vielleicht meinte er damit 
Richard Wagner? 
7) Erläuterungsbericht zum Wettbewerbsent- 
1) Hans SCHAROUN. Herausgegeben von Pe- wurf der Staatsbibliothek. H. SCHAROUN. 
ter PFANKUCH. Schriftenreihe der Akade- ibid. S..329., 
mie der Künste, Berlin 1974, S. 352. 8) ARCH+ Nr. 37. Vorwort. 
2) Bruno TAUT. Die Stadtkrone. Wieder- 
5) 
Dieter Hoffmann-Axthelm 
Architektur als 
Geschichtsfälschung. 
Zur geplanten Neuerrichtung des Ephraim-Palais. 
Man tut sich überall schwer mit der 
Stadtgeschichte. Aber was bei dem 
stadtplanerischen und architektonischen 
Bewältigungsversuch herauskommt, ist 
nirgendwo so schnell aus dem Gleich- 
gewicht wie in Berlin. Da ist drei Jahr- 
zehnte lang planiert worden — die 
Kriegszerstörungen waren die Chance, 
die historische Stadt loszuwerden und 
durch eine rationale Flächenplanung zu 
ersetzen. Als wäre das nicht genug, wur- 
den unter dem Stichwort Sanierung gan- 
ze Viertel abgerissen, eine Abrißmasse 
insgesamt, die inzwischen den Kriegs- 
zerstörungen schon gleichkommt. Wie 
unter einer riesigen Walze verschwand 
in dieser dreißigjährigen Abrißarbeit al- 
les, was daran erinnern könnte, daß es 
eine Vorgeschichte gegeben hat: barok: 
ke Palais, klassizistische Wohnbauten, 
preußische Staatsbauten von unwider- 
bringlicher Qualität wie Bahnhöfe, 
Feuerwehrdepots, Schulen, ebenso 
Wirtschaftsbauten wie Lagerhallen, Fa- 
brikgebäude; es wurden ganze Ord- 
nungsmuster der historischen Stadt 
durch Tiefbauer zerstört, die wie auf 
freiem Felde Schnellstraßenzüge in ge- 
fälligen Fünfziger-Jahre-Kurven legten, 
fast sämtliche bürgerlichen Plätze zer- 
störten, jegliche historische Verkehrs- 
orientierung ebenso kaputt machten wie 
die symmetrischen Straßenperspektiven 
des 19. Jahrhunderts: es wurden Hafen- 
becken zugeschüttet, Betonplatten von 
beliebiger Breite als Brücken über den 
Landwehrkanal gelegt, Ufer betoniert; 
auf jahrhundertealte barocke Blickach- 
sen wurden Hochhäuser gestellt und 
fast alle Schlüsselpunkte der jüngeren 
deutschen Geschichte wurden im Inter- 
esse der Bewältigung ausgetilgt mit 
Stumpf und Stiel, bis der letzte Mauer- 
rest verschwunden war. 
Inzwischen ist Geschichte zur Mode 
geworden. Der Staat sieht an sich herab 
und findet sich nackt und bloß. Ge- 
schichte muß her wie Mantel und Schlep- 
pe: etwas im Rücken möchte man haben, 
etwas sichtbare Gloria. 
Fehlen da nicht eben die wirklichen 
historischen Orte, Straßenführungen, 
Ruinen und Plätze, die man zuvor so 
überaus gründlich beseitigt hat? Man 
sollte es meinen, aber so ist es nicht. Das 
Gelände ist in dem Maße ideal, wie es 
leer, und ungeeignet, wie es bebaut ist: 
das wenigstens ist der Eindruck, der sich 
aus den bisher veröffentlichten Planun- 
gen zum Wiederaufbau der südlichen 
Friedrichstadt und der angrenzenden Vier- 
tel im Rahmen der Internationalen Bau- 
ausstellung 1984 ergibt. Die neue Ge- 
schichtsbeschaffung ist genauso gründ- 
lich, wie es die alte Flächenbeschaffung 
bzw. Geschichtebeiseiteschaffung bisher 
war. Es gibt da nicht den geringsten Wi- 
derspruch. Im Geaenteil, beides arbeitet 
1“
	        

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