Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1979, Jg. 11, H. 43-47, [48])

haben neue Gebräuche als zwingend ein- Fest, nach Form, nach Gemeinschaft, 
führen wollen oder auch in ihrem Kreise weil sie mißlingen mußte; und weil sie 
eingeführt: Form, Ritual, Hierarchie. Die- — wieder — auf dem Boden von 1905 
ses Betreiben kommt uns im Rückblick steht. Damals hat man sich ja sehr ernst- 
recht fragwürdig vor, auch lächerlich. Ich haft mit dem Phänomen Kultur beschäf- 
erinnere aber an jene Zeit, weil wir uns ge- tigt als dem wahrhaft Wünschenswerten; 
genwärtig wieder in einer Welle der Sehn- und man fand, daß Kultur eine Sache der 
sucht nach Bräuchen und Festen befin- Form ist: Formen des Lebens, Formen 
den, und weil wir dazu am Ende noch der Kunst, die von niemandem in Frage 
stärkeren Anlaß haben als unsere Groß- gestellt werden. Und so meinte man denn 
väter. damals -- und so meinten Ruhnau und 
Vor einem Jahr habe ich so ein neues Seide vor einem Jahr-man brauche nur 
Fest erlebt. Der Pfarrer Duntze, der gleich die Formen zu schaffen, die Kultur würde 
zu Ihnen sprechen wird, war auch ein folgen: Gebräuche her! wir haben nicht 
Festteilnehmer. Das war im Rahmen eines genug Gebräuche. Das heißt aber, das 
Colloquiums der Evangelischen Akademie Pferd vom Schwanze her aufzäumen. 
in Loccum mit dem Thema Feste, oder Man soll nicht glauben, daß ich mich 
das Fest heute. Der Gedanke des Festes, lustig machen will. Die Sache ist nicht 
welches da als ein exemplum zelebriert lustig, sie ist unheimlich. Ich erinnere 
wurde, stammte von dem Architekten mich, wie einige von uns am Morgen 
Werner Ruhnau und dem Publizisten nach dem Fest verstört herumgeschli- 
Adam Seide. Wir gingen — aber ich sollte chen sind, weil wir gegen diese‘ Veranstal- 
sagen, wir schritten — zum Festmahl eine tung nicht protestiert hatten, und ich mei 
mit Blumen bestreute Treppe herab, das ne, jeder, der die Geschichte der Zwanzi- 
Mahl wurde eingeleitet durch einen Tanz. ger Jahre kennt, wird unsere Betroffen- 
Der Tänzer, ein Farbiger, tanzte gut; aber heit verstehen. Denn neue Formen, ein 
wir hatten Hunger; denn man hatte uns neuer Bund, ein neuer Adel, eine neue 
das Mittagessen versagt, damit wir auf Hierarchie: das waren die Verlockungen, 
das festliche Mahl auch vom Magen her denen viele sehr ernsthafte bürgerliche 
gestimmt sein möchten. Das waren wir, junge Leute damals nicht widerstehen 
obwohl einige von uns zu Mittag etwas ge- konnten. 
mogelt hatten. (Das Haus in Loccum ist Merkwürdig eigentlich, daß wir dem 
kein Gefängnis.) Wir mußten aber peinlich Stefan George seine neuen Formen aufs 
lange warten, bis wir den ersten Bissen Wort glaubten, da er doch selbst in sol- 
genießen durften, denn das ganze Mahl chen Worten wie „der knaben sprung, der 
und jeder Gang wurde durch einen symbo- mädchen ringelreihn” ganz alte, abgelebte 
lischen Tanz, ein Vorkosten durch den Formen aufrief. Im Grunde störte uns die- 
Festvorsitzenden und ein zweites Vorko- ses Alte nicht; wir waren Romantiker. Es 
sten durch seinen Adlatus eingeleitet, wo- störte uns wahrscheinlich auch wenig, daß 
bei zwischen den beiden Kost-Zeremonien eben dieses bündische Element, dieses Be- 
jedesmal eine Lesung stattfand, die auf wußtsein einer neuen Elite im herauf-, 
den Gang (symbolisch) bezogen war. Als kommenden deutschen Faschismus eine 
wir schließlich den ersten Bissen bekamen, wichtige Rolle spielte. Es handelte sich 
fanden wir, daß er kalt war. Kalt oder nicht. da um den Widerstand gegen die Vermas- 
die Speisen sollten uns körperlich wie see- sung, gegen den allgemeinen Lebensbrei, 
lisch füllen, Ja, erfüllen; denn die Festlei- gegen die Verdinglichung, gegen das Ver- 
tung hatte festgelegt, daß wir schweigend blassen historischer Erinnerungen (die ja 
genießen sollten. Das war einigen zu viel, auch Anlaß zu Festen hätten werden kön- 
ich erinnere mich, daß es wohl den mei- nen), um das Bedürfnis nach Form und 
sten zu viel war. Wir brabbelten, und Gemeinschaft, Form in der Gemeinschaft, 
schließlich sprachen wir frei von der Leber ja, und nach bekräftigenden Festen. Eine 
weg. Denn das beste an diesen Colloquien dieser Stimmung verwandte, bemerkt man 
der Evangelischen Akademie ist dies: daß heute. Und mir scheint, in Hinblick auf 
man dort interessanten und liebenswerten unsere Erfahrungen sei ein Wort der War- 
Leuten begegnet. Und da sollte man einan- nung am Platze. 
der anschweigen? Der arme Ruhnau lief Wie also: Sollen wir den Willen zur 
schließlich an den Tisch, wo es am lautesten Form verteufeln, weil er einmal mitgehol- 
zuging und sagte: „Das ist kein Fest, das fen hat, uns in die Hölle zu führen? Sol- 
ist allenfalls eine fete”. Das Fest sollte ja len wir sagen: So ist es eben: Formlosig- 
die Probe aufs Exempel sein, daß wir Feste keit ist unser Schicksal, und damit Ver- 
feiern können, neue Feste, eigene Feste. einzelung, und das haben wir hinzuneh- 
Um noch einen Vers aus jener, der unseren men? Ich lasse die Frage einstweilen im 
so ähnlichen Zeit um die Jahrhundertwen- Raum stehen, will damit gegenwärtig nur 
de zu zitieren: andeuten, daß man einen so bedeutenden 
Willen wohl nicht einfach als unzeitgemäß 
abtun darf. 
Damals nannte man den Inhalt dieses 
Willens Kultur. Wenn Kultur darin besteht, 
daß ein Kanon von Formen von iemandem 
in Frage gestellt wird, dann kann man es 
ganz einfach sagen: Kultur ist Identität. 
Bestimmte Dinge gelten für jeden. Die Ge- 
schichte des Mittelalters berichtet von vie- 
len Ketzereien; aber auch die Ketzer haben 
niemals daran gezweifelt, daß Gott der 
Herr seinen Sohn auf die Erde geschickt 
Zu neuer form und farbe soll gedeihn 
Der kampf von mensch mit mensch und tier und 
erde, 
Der knaben sprung, der mädchen ringelreihn 
Und aana und tanz und zierliche gebärde. 
Dies ist — natürlich — George. 
In Loccum war die Probe aufs Exempel 
mißlungen. Ich benutze sie hier als ein Bei- 
spiel für die künstliche Verwirklichung 
eines tiefen Wunsches, des Wunsches nach 
hat, um uns zu erlösen. Das galt, von einem 
mittelalterlichen Atheismus ist nichts be- 
kannt geworden. Identität also. Die Identi- 
tät ist verloren gegangen; und nun spricht 
man davon, daß wir uns /dentifizieren sol- 
len, mögen, können. Der Staat will, daß 
seine Bürger sich mit ihm identifizieren, 
Stadt, Quartier und Straße sollen so geplant 
werden, daß wir uns mit ihnen identifizie- 
ren können; die Unternehmer sprechen da- 
von, der Arbeiter und der Angestellt müs- 
se — und könne — sich mit dem Werk iden- 
tifizieren: daher der Ausdruck „‚Mitarbei- 
ter”. Das Wort identifizieren erkennt an, 
daß die Identität verloren gegangen ist und 
wiedergewonnen werden muß. Ein hand- 
greifliches Mittel dazu ist das Fest. Und 
da erhebt sich die Frage, wie der Staat, die 
Stadt, das Quartier, die Straße beschaffen 
sein muß, damit sie Feste feiern können. 
Da das Fest als Mittel zur Identifizierung 
eingesetzt ist, so mag man uns den Zweifel 
daran zugute halten, ob der Staat, die Stadt, 
das Quartier, wie wir sie kennen, über- 
haupt dazu imstande ist, Feste zu feiern. 
Feste werden vielmehr eingesetzt, sie wer- 
den arrangiert. 
Sprechen wir zuerst vom Staat. Die 
Bundesrepublik scheint besonders wenig 
dazu geeignet, Feste zu feiern. Die Bundes: 
republik löste nach einem verhältnismäßig 
kurzen Interregnum der Besatzung einen 
Staat ab, welcher die Identifizierung mit 
allem nur möglichen Pathos betrieben hat. 
Abwendung vom Pathos, vom Kult des 
Staates gehört darum zum Wesen der Bun- 
desrepublik. Aber sie will ihre Feste haben 
— und diese Feste bleiben leer: sie enthal- 
ten ein „Immerhin Verfassungstag: man 
wird darauf hingewiesen, daß unsere Ver- 
fassung, immerhin, die freieste ist, die auf 
deutschem Boden je existiert hat. Wahr- 
scheinlich ist sie das. Ich muß gestehen, 
daß ich die Verfassung von Weimar nicht 
deutlich genug in Erinnerung habe, um 
schlüssig vergleichen zu können. Als ich 
jung war, stand im Kupfergraben ein Kahn, 
darin befand sich eine permanente Wal- 
fischausstellung. Das Schild über dem 
Eingang sagte: „Größte und einzige Wal- 
fischausstellung des Kontinents”. 
Größte und einzige ... Da sind wir mit 
der Verfassung besser dran. Wir können, 
immerhin, sagen „freieste unter zweien.” 
Die Wahl ist nicht sehr groß, aber es ist 
immerhin eine Wahl. Nur, unsere Emotio- 
nen spricht weder diese Wahl an, noch die 
Freiheit, die hier zelebriert wird. Es ist 
eine negative Freiheit. Ihr Wesen ist offen- 
bar in dem zu suchen, was hierzulande 
nicht geschieht: man wird nicht aus dem 
Bett geholt und verhaftet, man darf seine 
Meinung sagen, ohne daß einem das scha- 
det, man ist frei, ein Geschäft aufzuma- 
chen und andere für sich arbeiten zu las- 
sen, und diese anderen sind frei, bei Mül- 
ler zu arbeiten, oder bei Lehmann. Und 
das ist nicht in allen Ländern so. Ich will 
hier nicht fragen, ob unsere Freiheit, unse- 
re negative Freiheit so vollkommen ist, 
wie man uns zu verstehen gibt, ob man, 
zum Beispiel, wirklich alles sagen darf, was 
man denkt, ohne sich zu schaden. Das ist 
ein anderes Thema. Aber gesetzt den Fall, 
unsere Freiheit wäre vollkommen, so 
bleibt sie immer noch eine negative Frei- 
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