men, glaube ich, daß die Auseinanderset-
zung der Avantgarde mit der Autonomie
der Kunst uns bei diesem Praktischwerden
der Kritik immer noch wesentliche Hilfe-
stellungen leisten könnte. Denn erinnern
wir uns: Der Kernpunkt dieser Auseinan-
dersetzung war der Anspruch, die Kunst
auf ihre Möglichkeiten des praktischen
Eingreifens in lebendige Handlungszusam-
menhänge zu fundieren.
Soweit ich sehe besteht Übereinkunft
darin, daß sich der Angriff der Avantgarde
auf die bürgerliche Institution Kunst im
wesentlichen kunstpraktisch auf das frag-
würdig gewordene Verhältnis von Kunst
und Leben bezog. Dabei gerät leicht in
Vergessenheit, daß darin ja gerade auch
die Absage an eine Kunstbetrachtung und
Kulturgeschichtsschreibung enthalten
war, die uns heute noch Kopfzerbrechen
bereitet und mit der in der damaligen Er-
örterung der Wahrheitsgehalte von Kunst
der Behauptung vom autonomen Kunst-
werk immer nur zugearbeitet worden war.
Die Avantgarde hatte die bürgerliche
Kunstgeschichte angegriffen und sie kri-
tisiert. Was also läge näher, als Beziehungs-
punkte programmatischer Art zwischen
den Zielen der Avantgarde und einer
Kunstwissenschaft zu vermuten (oder
erst noch zu konstruieren), die in der Wei-
se wissenschaftstheoretisch von bürgerli-
chen Wahrnehmungs- und Interpretations-
vorstellungen abweicht, wie die Avant-
garde seinerzeit praktisch neue und vor
allem sozial begründete ästhetische Ver-
fahrensweisen eingeführt hatte. (Bei die-
sen Wahrnehmungs- und Interpretations-
vorstellungen tradierter Art denke ich vor
allem an Begriffe, deren Zerstörung bzw.
Aufhebung wichtig wurden: Begriffe wie
Originalität, Authentizität des Werks, Qua-
lität, Einmaligkeit, Genie, individuelle hand
werkliche Produktion etc.)
Eine Untersuchung darüber, ob die
Avantgardebewegung nachhaltigen Nieder-
schlag in der Kunstwissenschaft der Zwan-
ziger Jahre gefunden hat, liegt meines Wis-
sens nicht vor. Überdies sind konkrete Hin-
weise spärlich. Trotzdem läßt sich nur
schwer daran vorbeisehen, daß die Avant-
garde einen geschichtlich irreversiblen Pro-
zeß eingeleitet hat, hinter dessen Resultate
jede sich kritisch meinende Kunst- und
Kulturwissenschaft nicht zurückfallen kann
Zumindest hätte sie danach zu fragen, was
an innovativen Tendenzen sie für uns heu-
te noch von der damaligen Auseinander-
setzung für eine Durchsetzung neuer Wer-
tungen von der Avantgarde zu erwarten
hätte. Denn begründbare Zusammenhänge
hat es damals gegeben.
Von seiten der Avantgarde ganz gewiß,
und in der Regel geführt im Sinne der
Provokation. Kunstgeschichtliche Inhalte
sind von ihr verarbeitet worden; zumindest
wurden sie zu Themen. Ich denke dabei an
DUCHAMPS Versuch, der Mona Lisa ein
anderes Äußeres zu geben: Er malte ihr
einen.Bart.
_ Ganz anders aber geht MAJAKOWSKI
mit der bürgerlichen Kunst um. Bei ihm
stellt sich die Frage nach den möglichen
zierung der Disegnotheorie geführt hatte.
Dieser Prozeß der beginnenden Aus-“
differenzierung von Kunst zu ihrer Auto-
nomie im Verlaufe des 15. und 16. Jahr-
hunderts hatte gegen Ende des 18. Jahr-
hunderts endgültig seinen begrifflichen
Platz in einer systematisch angelegten
Ästhetik gefunden. Kunst wird aus allen
materiellen Zwecken herausgenommen
und demgemäß auch von ihnen freige-
setzt wahrgenommen. In KANTs ‘Kritik
der Urteilskraft’ wird dies deutlich, wenn
das ästhetische Gefallen von Kunst unab-
hängig davon sich herstellt, was KANT die
Existenz der Sache nennt. Also, die gesell-
schaftlichen Verknüpfungen, etwa die Not
der Menschen, Zwecke schlechthin, die
beispielsweise zum Bau eines Hauses bewe-
gen könnten. Bei KANT heißt es dazu
folgendermaßen: „Wenn mich jemand
fragt, ob ich den Palast, den ich vor mir
sehe, schön finde: so mag ich zwar sagen:
ich liebe deraleichen Dinge nicht, die bloß
für das Angaffen gemacht sind oder, wie
jener irokesische Sachem, ihm gefalle in
Paris nichts besser als die Garküchen; ich
kann noch überdem auf die Eitelkeit der
Großen auf gut Rousseauisch schmälen, wel-
che den Schweiß des Volkes auf so entbehr-
liche Dinge verwenden; ich kann mich
endlich gar leicht überzeugen, daß wenn
ich mich auf einem unbewohnten Eilande
ohne Hoffnung jemals wieder zu Menschen
zu kommen befände, und ich durch meinen
bloßen Wunsch ein solches Prachtgebäude
hinzaubern könnte, ich mir auch nicht ein-
mal diese Mühe darum geben würde, wenn
ich schon eine Hütte hätte, die mir bequem
genug wäre. Man kann mir alles diese ein-
räumen und gut heißen; nur davon ist
jetzt nicht die Rede. Man will nur wissen,
ob die bloße Vorstellung des Gegenstan-
des in mir mit Wohlgefallen begleitet sei,
so gleichgültig ich auch immer in Ansehung
der Existenz des Gegenstandes dieser Vor-
stellung sein mag. Man sieht leicht, daß
es auf dem, was ich aus dieser Vorstellung
in mir selbst mache, nicht auf dem worin
Die Genese dieser Teilhabe der Kunst an ich von der Existenz des Gegenstandes ab-
Herrschaft haben wir seinerzeit als die Ge- hänge, ankomme, um zu sagen, er sei
nese der Autonomie der Kunst in der früh- schön, um zu beweisen, ich habe Geschmack.
bürgerlichen Gesellschaft oberitalieni- Ein jeder muß eingestehen, daß dasjenige
scher Stadtrepubliken für das 15. und 16. Urteil über Schönheit, worin sich das min-
Jahrhundert aufzuzeigen versucht (vgl. deste Interesse mengt, sehr parteilich und
M. MÜLLER, H. BREDEKAMP, B.HINZ kein reines Geschmacksurteil sei. Man muß
u.a., ‘Autonomie der Kunst. Zur Genese nicht im mindestens für die Existenz der
und Kritik einer bürgerlichen Kategorie”, Sache eingenommen, sondern in diesem
Frankfurt/M. 1972). Es ging uns darum Betracht ganz gleichgültig sein, um in Sa-
darzustellen, wie sich das Kunstwerk aus chen des Geschmacks den Richter zu
dem mittelalterlichen Gebrauchswert-Ka- Spielen.” (Kritik der ästhetischen Urteilskraft
non herauslöst; daß sich das Verhältnis S 2,5. 280 f., Kant-Werke. Band. Darmstadt
des Künstlers zum Auftraggeber ändert; 1968).
daß mit der Entfaltung des frühkapitalisti- Die Sonderstellung der Kunst als auto-
schen Warenverkehrs ein für die Kunst nomer Gegenstandsbereich des Ästheti-
überlokaler Markt entsteht; daß Produk- schen hat im Verlaufe des 19. Jahrhunderts
tion und Rezeption auseinanderfallen und eine über die Rehabilitierung des Sinnli-
damit eine Anonymisierung des Künstlers chen in der Aufklärung hinausgehende Auf-
einhergeht. Schließlich fällt die Rückstän- _wertung der Kunst als Medium von Totali-
digkeit der künstlerischen Arbeit als hand- tätserfassung zur Voraussetzung. Kunst
werkliche Produktion ins Gewicht, das kann dadurch für meist ideelle Interessen
wachsende Zurückdrängen des materiel- genutzt und in Anspruch genommen wer-
len Substrats als Notwendigkeit, den ho- den, die sich in den allgemeinen Vergesell.
hen künstlerischen Anspruch des Kunst- schaftungsprozessen nicht genügend oder
werks zu legitimieren — was gegen Mitte gar nicht mehr ausgebildet sehen.
des 16. Jahrhunderts zur Gründung von Aus diesem gewordenen Totalitätsan-
Akademien und vollends zur Ausdifferen- spruch der Kunst — nämlich die verlorene
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