Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1979, Jg. 11, H. 43-47, [48])

men, glaube ich, daß die Auseinanderset- 
zung der Avantgarde mit der Autonomie 
der Kunst uns bei diesem Praktischwerden 
der Kritik immer noch wesentliche Hilfe- 
stellungen leisten könnte. Denn erinnern 
wir uns: Der Kernpunkt dieser Auseinan- 
dersetzung war der Anspruch, die Kunst 
auf ihre Möglichkeiten des praktischen 
Eingreifens in lebendige Handlungszusam- 
menhänge zu fundieren. 
Soweit ich sehe besteht Übereinkunft 
darin, daß sich der Angriff der Avantgarde 
auf die bürgerliche Institution Kunst im 
wesentlichen kunstpraktisch auf das frag- 
würdig gewordene Verhältnis von Kunst 
und Leben bezog. Dabei gerät leicht in 
Vergessenheit, daß darin ja gerade auch 
die Absage an eine Kunstbetrachtung und 
Kulturgeschichtsschreibung enthalten 
war, die uns heute noch Kopfzerbrechen 
bereitet und mit der in der damaligen Er- 
örterung der Wahrheitsgehalte von Kunst 
der Behauptung vom autonomen Kunst- 
werk immer nur zugearbeitet worden war. 
Die Avantgarde hatte die bürgerliche 
Kunstgeschichte angegriffen und sie kri- 
tisiert. Was also läge näher, als Beziehungs- 
punkte programmatischer Art zwischen 
den Zielen der Avantgarde und einer 
Kunstwissenschaft zu vermuten (oder 
erst noch zu konstruieren), die in der Wei- 
se wissenschaftstheoretisch von bürgerli- 
chen Wahrnehmungs- und Interpretations- 
vorstellungen abweicht, wie die Avant- 
garde seinerzeit praktisch neue und vor 
allem sozial begründete ästhetische Ver- 
fahrensweisen eingeführt hatte. (Bei die- 
sen Wahrnehmungs- und Interpretations- 
vorstellungen tradierter Art denke ich vor 
allem an Begriffe, deren Zerstörung bzw. 
Aufhebung wichtig wurden: Begriffe wie 
Originalität, Authentizität des Werks, Qua- 
lität, Einmaligkeit, Genie, individuelle hand 
werkliche Produktion etc.) 
Eine Untersuchung darüber, ob die 
Avantgardebewegung nachhaltigen Nieder- 
schlag in der Kunstwissenschaft der Zwan- 
ziger Jahre gefunden hat, liegt meines Wis- 
sens nicht vor. Überdies sind konkrete Hin- 
weise spärlich. Trotzdem läßt sich nur 
schwer daran vorbeisehen, daß die Avant- 
garde einen geschichtlich irreversiblen Pro- 
zeß eingeleitet hat, hinter dessen Resultate 
jede sich kritisch meinende Kunst- und 
Kulturwissenschaft nicht zurückfallen kann 
Zumindest hätte sie danach zu fragen, was 
an innovativen Tendenzen sie für uns heu- 
te noch von der damaligen Auseinander- 
setzung für eine Durchsetzung neuer Wer- 
tungen von der Avantgarde zu erwarten 
hätte. Denn begründbare Zusammenhänge 
hat es damals gegeben. 
Von seiten der Avantgarde ganz gewiß, 
und in der Regel geführt im Sinne der 
Provokation. Kunstgeschichtliche Inhalte 
sind von ihr verarbeitet worden; zumindest 
wurden sie zu Themen. Ich denke dabei an 
DUCHAMPS Versuch, der Mona Lisa ein 
anderes Äußeres zu geben: Er malte ihr 
einen.Bart. 
_ Ganz anders aber geht MAJAKOWSKI 
mit der bürgerlichen Kunst um. Bei ihm 
stellt sich die Frage nach den möglichen 
zierung der Disegnotheorie geführt hatte. 
Dieser Prozeß der beginnenden Aus-“ 
differenzierung von Kunst zu ihrer Auto- 
nomie im Verlaufe des 15. und 16. Jahr- 
hunderts hatte gegen Ende des 18. Jahr- 
hunderts endgültig seinen begrifflichen 
Platz in einer systematisch angelegten 
Ästhetik gefunden. Kunst wird aus allen 
materiellen Zwecken herausgenommen 
und demgemäß auch von ihnen freige- 
setzt wahrgenommen. In KANTs ‘Kritik 
der Urteilskraft’ wird dies deutlich, wenn 
das ästhetische Gefallen von Kunst unab- 
hängig davon sich herstellt, was KANT die 
Existenz der Sache nennt. Also, die gesell- 
schaftlichen Verknüpfungen, etwa die Not 
der Menschen, Zwecke schlechthin, die 
beispielsweise zum Bau eines Hauses bewe- 
gen könnten. Bei KANT heißt es dazu 
folgendermaßen: „Wenn mich jemand 
fragt, ob ich den Palast, den ich vor mir 
sehe, schön finde: so mag ich zwar sagen: 
ich liebe deraleichen Dinge nicht, die bloß 
für das Angaffen gemacht sind oder, wie 
jener irokesische Sachem, ihm gefalle in 
Paris nichts besser als die Garküchen; ich 
kann noch überdem auf die Eitelkeit der 
Großen auf gut Rousseauisch schmälen, wel- 
che den Schweiß des Volkes auf so entbehr- 
liche Dinge verwenden; ich kann mich 
endlich gar leicht überzeugen, daß wenn 
ich mich auf einem unbewohnten Eilande 
ohne Hoffnung jemals wieder zu Menschen 
zu kommen befände, und ich durch meinen 
bloßen Wunsch ein solches Prachtgebäude 
hinzaubern könnte, ich mir auch nicht ein- 
mal diese Mühe darum geben würde, wenn 
ich schon eine Hütte hätte, die mir bequem 
genug wäre. Man kann mir alles diese ein- 
räumen und gut heißen; nur davon ist 
jetzt nicht die Rede. Man will nur wissen, 
ob die bloße Vorstellung des Gegenstan- 
des in mir mit Wohlgefallen begleitet sei, 
so gleichgültig ich auch immer in Ansehung 
der Existenz des Gegenstandes dieser Vor- 
stellung sein mag. Man sieht leicht, daß 
es auf dem, was ich aus dieser Vorstellung 
in mir selbst mache, nicht auf dem worin 
Die Genese dieser Teilhabe der Kunst an ich von der Existenz des Gegenstandes ab- 
Herrschaft haben wir seinerzeit als die Ge- hänge, ankomme, um zu sagen, er sei 
nese der Autonomie der Kunst in der früh- schön, um zu beweisen, ich habe Geschmack. 
bürgerlichen Gesellschaft oberitalieni- Ein jeder muß eingestehen, daß dasjenige 
scher Stadtrepubliken für das 15. und 16. Urteil über Schönheit, worin sich das min- 
Jahrhundert aufzuzeigen versucht (vgl. deste Interesse mengt, sehr parteilich und 
M. MÜLLER, H. BREDEKAMP, B.HINZ kein reines Geschmacksurteil sei. Man muß 
u.a., ‘Autonomie der Kunst. Zur Genese nicht im mindestens für die Existenz der 
und Kritik einer bürgerlichen Kategorie”, Sache eingenommen, sondern in diesem 
Frankfurt/M. 1972). Es ging uns darum Betracht ganz gleichgültig sein, um in Sa- 
darzustellen, wie sich das Kunstwerk aus chen des Geschmacks den Richter zu 
dem mittelalterlichen Gebrauchswert-Ka- Spielen.” (Kritik der ästhetischen Urteilskraft 
non herauslöst; daß sich das Verhältnis S 2,5. 280 f., Kant-Werke. Band. Darmstadt 
des Künstlers zum Auftraggeber ändert; 1968). 
daß mit der Entfaltung des frühkapitalisti- Die Sonderstellung der Kunst als auto- 
schen Warenverkehrs ein für die Kunst nomer Gegenstandsbereich des Ästheti- 
überlokaler Markt entsteht; daß Produk- schen hat im Verlaufe des 19. Jahrhunderts 
tion und Rezeption auseinanderfallen und eine über die Rehabilitierung des Sinnli- 
damit eine Anonymisierung des Künstlers chen in der Aufklärung hinausgehende Auf- 
einhergeht. Schließlich fällt die Rückstän- _wertung der Kunst als Medium von Totali- 
digkeit der künstlerischen Arbeit als hand- tätserfassung zur Voraussetzung. Kunst 
werkliche Produktion ins Gewicht, das kann dadurch für meist ideelle Interessen 
wachsende Zurückdrängen des materiel- genutzt und in Anspruch genommen wer- 
len Substrats als Notwendigkeit, den ho- den, die sich in den allgemeinen Vergesell. 
hen künstlerischen Anspruch des Kunst- schaftungsprozessen nicht genügend oder 
werks zu legitimieren — was gegen Mitte gar nicht mehr ausgebildet sehen. 
des 16. Jahrhunderts zur Gründung von Aus diesem gewordenen Totalitätsan- 
Akademien und vollends zur Ausdifferen- spruch der Kunst — nämlich die verlorene 
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