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Architekturgeschichten statt Architekturgeschichte
Bemerkungen zu Kuhnert, N.; Reiß-Schmidt, S.: Entwerfen mit Invarianzen und Vorstellungsbildern — Historischer Teil: Rationa-
lismus als Tendenz in der Geschichte der Architekturkunst. Arch+ H. 37 (1978), S. 28-37
Einen Beitrag zu leisten zu der so not-
wendigen Neuschreibung der Architek-
turgeschichte, nämlich einer auf die heu-
tigen Gestaltungsprobleme bezogenen
Neuschreibung, dies hätte schon erfor-
dert, die Architekturtraktate aus den be-
treffenden Epochen selbst zu studieren
anstatt mit Sekundärliteratur sich zu be-
gnügen, in welcher aus dem Blickwinkel
der eigenen Zeit und der eigenen Position
des Schreibers diese Traktate unvermeid-
barerweise einseitig interpretiert werden,
wenn sie dabei auch nicht gerade so ent-
stellend zu sein bräuchte wie die von den
Autoren verwendeten Texte von Kauf-
mann, Lemagny und Vidler. Es hätte
weiter erfordert, sich mit der Geistesge-
schichte dieser Epochen zu befassen, oh-
ne die eine adäquate Interpretation der
Architekturtraktate kaum möglich ist.
Und es hätte schließlich erfordert, sich
auch über die Architekturtheorie und ih-
re geistesgeschichtlichen Hintergründe
der vorausgegangenen Epoche einen Über-
blick zu verschaffen, so daß die Äußerun-
gen der Architekturtheoretiker der nach-
folgenden, ausführlicher behandelten
Epoche auch auf diesen Hintergrund hät-
ten bezogen werden können. Nur so wäre
es möglich gewesen, die notwendigen hi-
storischen Differenzierungen vorzuneh-
men, sowohl bezüglich der Beziehung
der heutigen Bewegung der „‚Rationalen
Architektur”, die im Hauptteil diskutiert
wird, zu Bewegungen vergangener Epo-
Chen, als auch bezüglich der Beziehungen
der Bewegungen dieser Epochen unter-
einander.
Die allgemeine Tendenz des Artikels
ist stattdessen Projektion moderner Vor-
stellungen bzw. vermeintlich moderner
Vorstellungen auf vergangene Epochen
Oder einzelne ihrer Theoretiker.
Lodoli, so schreiben die Autoren, hät-
te „jedes nichtfunktionale Ornament‘”” —
was das wohl ist? — verbannt und sei
ein extrem funktionalistisch argumentie-
render Theoretiker gewesen. In Wirklich-
keit ging es ihm, in Abgrenzung gegen-
über der Scheinarchitektur der vorausge-
gangenen Epoche (Blindfenster und Ähn-
liches) um Übereinstimmung des Orna-
Ments mit der Funktion. Die Autoren ha-
ben sich hier offensichtlich, und nicht
zufällig, an die falschen Übersetzungen
von Kaufmann angelehnt, der wo immer
Man genauer hinsieht zu 0.g. Projektio-
Nen tendiert und offensichtlich mit sol-
Cherart Entdeckung von Vorläufern der
Moderne Furore machen möchte.
_ Auch Laugier, einer der dem Rationa-
lismus am nächsten stehenden Architektur:
theoretiker und Vorbereiter der Entwick-
lung des Typusbegriffs, wird allzusehr für
die Moderne vereinnahmt. Er hätte, so
schreiben die Autoren, „den entschiede-
nen Bruch mit der Konvention, den
Säulenordnungen usw.” vollzogen. Was
hat er denn anderes getan, als im Rück-
gang auf seine Urhütte, die ja nichts
anderes war als eine Rückprojektion des
griechischen Tempels auf einen fiktiven
Urzustand der Architektur, das klassi-
sche System samt der drei Ordnungen
der griechischen Antike sozusagen in
Reinkultur wiederherzustellen. (Diesbe:
züglich darf man sich z.B. auch nicht
irre machen lassen von der deutschen
Übersetzung von 1758, in der sowohl
„piedestal’”’, von Laugier als Fuß einer
Säule abgelehnt, als auch „‚,base’’ mit
„Säulenfuß” übersetzt ist, so daß der gan-
ze Traktat in diesem Punkt widersprüch-
lich erscheint, und man bei nur aus-
schnitthaftem Lesen meinen kann, Lau-
gier hätte die Säulenbasis abgelehnt.)
Laugier hat alles, was in der Struktur
dieser Urhütte kein Vorbild hatte, zwar
nicht, wie die Autoren mit Lemagny
behaupten, als überflüssig und unlogisch
bezeichnet und abgelehnt - dazu gehö-
ren nämlich auch Fenster und Türen
und selbst Wände —, sondern dem für
die Architektur Essentie/len als das be-
zogen auf das Bedürfnis Notwendige
gegenübergestellt.
Nach Durand’s Methode, so zitieren
die Autoren Vidler, würde der architek-
tonische Entwurf sich aufbauen durch
fortgesetztes Kombinieren von Grundele-
menten zu Gebäudeteilen, zu Gebäude-
komplexen, zu Städten. In Wirklichkeit
beschreibt Durand dies als den in der
Lehre verfolgten Weg, und hebt aus-
drücklich hervor, daß beim Entwerfen
in umgekehrter Richtung vorgegangen
werden müsse. Durand kommt es also
eher auf Flexibilität in der Anpassung
des Typus an die jeweiligen Umstände
an, als auf Typisierung. Sicherlich, die
Folgen mögen andere gewesen sein. Wenn
die Autoren, verleitet durch ihre Fehlin-
formiertheit oder nicht, Durand als Weg-
bereiter der großindustriellen Typisie-
rung für Serienproduktion bezeichnen, so
bedürfte dies auf jeden Fall einer Argu-
mentation: Spurensicherung. Sollte etwa
Gropius, der Pionier des Systembaugedan-
kens, mit dem er 1910 bei der AEG sein
Glück versuchte, Durand’s ‚„‚,Precis’’ bei
Behrens unter seinem Zeichentisch liegen
gehabt haben?
Die hier sich zeigende Tendenz der Ge-
schichtseinebnung finden wir dann auf
allgemeinerer Ebene wieder in der wun-
derlichen These vom ‚‚Rationalismus’’
als allgemeiner, nicht auf die Epoche des
Rationalismus im üblichen Sinn des Be-
griffs beschränkter geschichtlicher Ten-
denz der Architekturtheorie. Mit dieser
These werden die Autoren weder der dem
Rationalismus vorausgehenden ersten
großen Epoche der Neuzeit vom Anfang
des 15. bis zum Ende des 17. Jh.. noch
der dem Rationalismus parallellaufen-
den und nachfolgenden Entwicklung ge-
recht. Ihre zentrale Bestimmung, näm-
lich die Auffassung der Architektur als
„autonome Disziplin’ paßt weder für
die ältere Ästhetik mit ihrer auf der py-
thagoräisch-platonischen Zahlenmeta-
physik begründeten Proportionslehre,
mittels derer dig Architektur nach den
Gesetzen des Kosmos gebildet werden
sollte — und was heißt hier ‚„„‚wissen-
schaftliche Erforschung”, „rationaler
Kern” usw. — noch für die nach der Auf-
klärung erfolgte Beziehung der Ästhetik
auf die Natur in ihrer landschaftlichen
Erscheinung, sowie auf das betrachtende
Subjekt in seinen Fakultäten der Wahr-
nehmung und Empfindung. Sie paßt
wirklich nur auf jenen kurzen rationali-
stischen Versuch, die Gesetze der Archi-
tektur aus ihr selbst abzuleiten. Bezogen
auf den Rationalismus aber ist die weite-
re Definition, die die Autoren geben, zu
verwaschen. Verwaschen sowohl in sei-
nen Intentionen, als auch in seiner geistes-
geschichtlichen Überholtheit bleibt damit,
woran die.neue Bewegung der ‚,Rationa-
len Architektur” z.T. anknüpft.
Freilich können die Autoren dann auch
den Rationalismus und die funktionale
Orientierung nicht in ihrer Wesensverschie-
denheit und ihren unterschiedlichen gei-
stesgeschichtlichen Hintergründen erken-
nen, nämlich den Rationalismus als vor-
wiegend theoretische Haltung und Kind
der Aufklärung, die funktionale Orientie-
rung als eine mehr pragmatische Haltung
und als sich entwickelnd auf dem Hinter-
grund zum einen der Subjektivierung der
Ästhetik, zum andern der Herausbildung
des funktionalen Denkens, wie es in der
Wissenschaft im 17. Jh. erfolgte. Und ge-
rade die eine Bestimmung, die die Autoren
geben, indem sie die funktionale Orientie-
rung als außerästhetische Bewegung kenn-
zeichnen, ist nicht zu halten. Was die Au-
toren uns hier im Jahre 1978 bieten ist
hanebüchen. Wie sie nicht unterscheiden
zwischen rationalen Aspekten einer Theo-
rie und Rationalismus als dem Glauben
an die Möglichkeit einer restlosen Durch-
dringung der Dinge durch den Verstand,
so unterscheiden sie auch nicht zwischen
funktionalen Aspekten architektonischer
Gestaltung und der funktionsbezogenen,
antiformalistischen Ästhetik, wie sie sich,
schon vor Lodoli, in der ersten Hälfte des
18. Jh. in England zu entwickeln begann,
sowie zwischen dieser und dem Funktio-
nalismus als deren anti-ästhetischem oder
a-ästhetischem Extrem. Letzterer wurde
bisher nur selten vertreten, zu Beginn des
19. Jh. von Durand, bei dem das Ästheti-
sche mit dem Argument der visuellen
Faßlichkeit ganz offenkundig zur Hinter-
tür wieder hereinkam, und Anfang des
20. Jh. vor allem von Hannes Meyer, der
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