Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1979, Jg. 11, H. 43-47, [48])

| An ARCH+ 
IS 
Architekturgeschichten statt Architekturgeschichte 
Bemerkungen zu Kuhnert, N.; Reiß-Schmidt, S.: Entwerfen mit Invarianzen und Vorstellungsbildern — Historischer Teil: Rationa- 
lismus als Tendenz in der Geschichte der Architekturkunst. Arch+ H. 37 (1978), S. 28-37 
Einen Beitrag zu leisten zu der so not- 
wendigen Neuschreibung der Architek- 
turgeschichte, nämlich einer auf die heu- 
tigen Gestaltungsprobleme bezogenen 
Neuschreibung, dies hätte schon erfor- 
dert, die Architekturtraktate aus den be- 
treffenden Epochen selbst zu studieren 
anstatt mit Sekundärliteratur sich zu be- 
gnügen, in welcher aus dem Blickwinkel 
der eigenen Zeit und der eigenen Position 
des Schreibers diese Traktate unvermeid- 
barerweise einseitig interpretiert werden, 
wenn sie dabei auch nicht gerade so ent- 
stellend zu sein bräuchte wie die von den 
Autoren verwendeten Texte von Kauf- 
mann, Lemagny und Vidler. Es hätte 
weiter erfordert, sich mit der Geistesge- 
schichte dieser Epochen zu befassen, oh- 
ne die eine adäquate Interpretation der 
Architekturtraktate kaum möglich ist. 
Und es hätte schließlich erfordert, sich 
auch über die Architekturtheorie und ih- 
re geistesgeschichtlichen Hintergründe 
der vorausgegangenen Epoche einen Über- 
blick zu verschaffen, so daß die Äußerun- 
gen der Architekturtheoretiker der nach- 
folgenden, ausführlicher behandelten 
Epoche auch auf diesen Hintergrund hät- 
ten bezogen werden können. Nur so wäre 
es möglich gewesen, die notwendigen hi- 
storischen Differenzierungen vorzuneh- 
men, sowohl bezüglich der Beziehung 
der heutigen Bewegung der „‚Rationalen 
Architektur”, die im Hauptteil diskutiert 
wird, zu Bewegungen vergangener Epo- 
Chen, als auch bezüglich der Beziehungen 
der Bewegungen dieser Epochen unter- 
einander. 
Die allgemeine Tendenz des Artikels 
ist stattdessen Projektion moderner Vor- 
stellungen bzw. vermeintlich moderner 
Vorstellungen auf vergangene Epochen 
Oder einzelne ihrer Theoretiker. 
Lodoli, so schreiben die Autoren, hät- 
te „jedes nichtfunktionale Ornament‘”” — 
was das wohl ist? — verbannt und sei 
ein extrem funktionalistisch argumentie- 
render Theoretiker gewesen. In Wirklich- 
keit ging es ihm, in Abgrenzung gegen- 
über der Scheinarchitektur der vorausge- 
gangenen Epoche (Blindfenster und Ähn- 
liches) um Übereinstimmung des Orna- 
Ments mit der Funktion. Die Autoren ha- 
ben sich hier offensichtlich, und nicht 
zufällig, an die falschen Übersetzungen 
von Kaufmann angelehnt, der wo immer 
Man genauer hinsieht zu 0.g. Projektio- 
Nen tendiert und offensichtlich mit sol- 
Cherart Entdeckung von Vorläufern der 
Moderne Furore machen möchte. 
_ Auch Laugier, einer der dem Rationa- 
lismus am nächsten stehenden Architektur: 
theoretiker und Vorbereiter der Entwick- 
lung des Typusbegriffs, wird allzusehr für 
die Moderne vereinnahmt. Er hätte, so 
schreiben die Autoren, „den entschiede- 
nen Bruch mit der Konvention, den 
Säulenordnungen usw.” vollzogen. Was 
hat er denn anderes getan, als im Rück- 
gang auf seine Urhütte, die ja nichts 
anderes war als eine Rückprojektion des 
griechischen Tempels auf einen fiktiven 
Urzustand der Architektur, das klassi- 
sche System samt der drei Ordnungen 
der griechischen Antike sozusagen in 
Reinkultur wiederherzustellen. (Diesbe: 
züglich darf man sich z.B. auch nicht 
irre machen lassen von der deutschen 
Übersetzung von 1758, in der sowohl 
„piedestal’”’, von Laugier als Fuß einer 
Säule abgelehnt, als auch „‚,base’’ mit 
„Säulenfuß” übersetzt ist, so daß der gan- 
ze Traktat in diesem Punkt widersprüch- 
lich erscheint, und man bei nur aus- 
schnitthaftem Lesen meinen kann, Lau- 
gier hätte die Säulenbasis abgelehnt.) 
Laugier hat alles, was in der Struktur 
dieser Urhütte kein Vorbild hatte, zwar 
nicht, wie die Autoren mit Lemagny 
behaupten, als überflüssig und unlogisch 
bezeichnet und abgelehnt - dazu gehö- 
ren nämlich auch Fenster und Türen 
und selbst Wände —, sondern dem für 
die Architektur Essentie/len als das be- 
zogen auf das Bedürfnis Notwendige 
gegenübergestellt. 
Nach Durand’s Methode, so zitieren 
die Autoren Vidler, würde der architek- 
tonische Entwurf sich aufbauen durch 
fortgesetztes Kombinieren von Grundele- 
menten zu Gebäudeteilen, zu Gebäude- 
komplexen, zu Städten. In Wirklichkeit 
beschreibt Durand dies als den in der 
Lehre verfolgten Weg, und hebt aus- 
drücklich hervor, daß beim Entwerfen 
in umgekehrter Richtung vorgegangen 
werden müsse. Durand kommt es also 
eher auf Flexibilität in der Anpassung 
des Typus an die jeweiligen Umstände 
an, als auf Typisierung. Sicherlich, die 
Folgen mögen andere gewesen sein. Wenn 
die Autoren, verleitet durch ihre Fehlin- 
formiertheit oder nicht, Durand als Weg- 
bereiter der großindustriellen Typisie- 
rung für Serienproduktion bezeichnen, so 
bedürfte dies auf jeden Fall einer Argu- 
mentation: Spurensicherung. Sollte etwa 
Gropius, der Pionier des Systembaugedan- 
kens, mit dem er 1910 bei der AEG sein 
Glück versuchte, Durand’s ‚„‚,Precis’’ bei 
Behrens unter seinem Zeichentisch liegen 
gehabt haben? 
Die hier sich zeigende Tendenz der Ge- 
schichtseinebnung finden wir dann auf 
allgemeinerer Ebene wieder in der wun- 
derlichen These vom ‚‚Rationalismus’’ 
als allgemeiner, nicht auf die Epoche des 
Rationalismus im üblichen Sinn des Be- 
griffs beschränkter geschichtlicher Ten- 
denz der Architekturtheorie. Mit dieser 
These werden die Autoren weder der dem 
Rationalismus vorausgehenden ersten 
großen Epoche der Neuzeit vom Anfang 
des 15. bis zum Ende des 17. Jh.. noch 
der dem Rationalismus parallellaufen- 
den und nachfolgenden Entwicklung ge- 
recht. Ihre zentrale Bestimmung, näm- 
lich die Auffassung der Architektur als 
„autonome Disziplin’ paßt weder für 
die ältere Ästhetik mit ihrer auf der py- 
thagoräisch-platonischen Zahlenmeta- 
physik begründeten Proportionslehre, 
mittels derer dig Architektur nach den 
Gesetzen des Kosmos gebildet werden 
sollte — und was heißt hier ‚„„‚wissen- 
schaftliche Erforschung”, „rationaler 
Kern” usw. — noch für die nach der Auf- 
klärung erfolgte Beziehung der Ästhetik 
auf die Natur in ihrer landschaftlichen 
Erscheinung, sowie auf das betrachtende 
Subjekt in seinen Fakultäten der Wahr- 
nehmung und Empfindung. Sie paßt 
wirklich nur auf jenen kurzen rationali- 
stischen Versuch, die Gesetze der Archi- 
tektur aus ihr selbst abzuleiten. Bezogen 
auf den Rationalismus aber ist die weite- 
re Definition, die die Autoren geben, zu 
verwaschen. Verwaschen sowohl in sei- 
nen Intentionen, als auch in seiner geistes- 
geschichtlichen Überholtheit bleibt damit, 
woran die.neue Bewegung der ‚,Rationa- 
len Architektur” z.T. anknüpft. 
Freilich können die Autoren dann auch 
den Rationalismus und die funktionale 
Orientierung nicht in ihrer Wesensverschie- 
denheit und ihren unterschiedlichen gei- 
stesgeschichtlichen Hintergründen erken- 
nen, nämlich den Rationalismus als vor- 
wiegend theoretische Haltung und Kind 
der Aufklärung, die funktionale Orientie- 
rung als eine mehr pragmatische Haltung 
und als sich entwickelnd auf dem Hinter- 
grund zum einen der Subjektivierung der 
Ästhetik, zum andern der Herausbildung 
des funktionalen Denkens, wie es in der 
Wissenschaft im 17. Jh. erfolgte. Und ge- 
rade die eine Bestimmung, die die Autoren 
geben, indem sie die funktionale Orientie- 
rung als außerästhetische Bewegung kenn- 
zeichnen, ist nicht zu halten. Was die Au- 
toren uns hier im Jahre 1978 bieten ist 
hanebüchen. Wie sie nicht unterscheiden 
zwischen rationalen Aspekten einer Theo- 
rie und Rationalismus als dem Glauben 
an die Möglichkeit einer restlosen Durch- 
dringung der Dinge durch den Verstand, 
so unterscheiden sie auch nicht zwischen 
funktionalen Aspekten architektonischer 
Gestaltung und der funktionsbezogenen, 
antiformalistischen Ästhetik, wie sie sich, 
schon vor Lodoli, in der ersten Hälfte des 
18. Jh. in England zu entwickeln begann, 
sowie zwischen dieser und dem Funktio- 
nalismus als deren anti-ästhetischem oder 
a-ästhetischem Extrem. Letzterer wurde 
bisher nur selten vertreten, zu Beginn des 
19. Jh. von Durand, bei dem das Ästheti- 
sche mit dem Argument der visuellen 
Faßlichkeit ganz offenkundig zur Hinter- 
tür wieder hereinkam, und Anfang des 
20. Jh. vor allem von Hannes Meyer, der 
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