Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1979, Jg. 11, H. 43-47, [48])

Architektur und Ethnologie: Berlin/Anatolien 
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Peter Bumke 
Raumaufteilung bei anatolischen Bauern 
Wer die Absicht verfolgt, die Lebenswelt 
anatolischer Bauern in der Perspektive 
der von ihnen vorgenommenen Raumein- 
teilungen darzustellen, wird sich leicht 
einer eigentümlichen Affinität gewahr, 
die zwischen dem Gegenstand und der 
zunächst vielleicht äußerlich anmuten- 
den, weil nur auf Räume gerichteten 
Perspektive besteht. Denn der Versuch 
einer Rekonstruktion der dieser Lebens: 
welt zugrundeliegenden Prinzipien der 
wirtschaftlichen und sozialen Organisa- 
tion gelangt wie selbstverständlich zu der 
Einsicht, daß wirtschaftliche Tätigkei- 
ten ebenso wie typische Verhaltensmu- 
ster sich entlang räumlicher Abgrenzun- 
gen besonders sinnvoll ordnen lassen. 
Dem entspricht auch, daß die korrespon- 
dierenden türkischen Konzeptualisierun- 
gen der Regeln des gesellschaftlichen 
Umgangs oft streng auf bestimmte 
räumliche Kontexte bezogene Normen 
umschreiben. Indem ich also als Glie- 
derungsprinzip der folgenden Bemerkun- 
gen die räumliche Aufteilung der Lebens: 
welt anatolsicher Bauern in Haus, Dorf, 
Feld und Stadt wähle, möchte ich vor 
allem der inneren Logik der ihr zugrunde- 
liegenden Verhältnisse und den Vorstel- 
lungen derer, die in ihnen leben, folgen 
und nicht einer von außen übergestülp- 
ten analytischen Perspektive. 
DAS HAUS 
Die isolierte Betrachtung des Hauses als 
eines in sich abgeschlossenen Raums 
scheint der Annahme, unsere Gliederung 
liefere uns einigermaßen in sich homo- 
gene, da von anderen deutlich unter- 
schiedene Räume gesellschaftlichen 
Lebens, zunächst zu widersprechen: ist 
doch das Haus, etwa in bezug auf die 
Arbeitsteilung und die vielfältigen Re- 
geln des Verkehrs zwischen einzelnen 
Bewohnern, der Ort höchster Differen- 
zierung. 
Die in ihm anfallenden Arbeiten der 
Nahrungsmittelverarbeitung und -zube- 
reitung des nie zu Ende gehenden Ord- 
nens und Säuberns des gesamten Inven- 
tars und der Versorgung der Kinder ist 
ausschließlich Aufgabe der Frauen, die 
hier das Zentrum ihrer Tätigkeiten ha- 
ben. Für Männer ist das Haus ein Ort der 
Ruhe und des Konsums, und nur bei sei- 
ner Errichtung, bei Ausbesserungsarbei- 
ten und an seiner Peripherie, im Stall 
und beim Schlachten der Tiere, wird es 
zum Ort von Arbeiten. Der älteste Mann 
des Hauses unterhält allerdings in der 
Regel ein Rechtsverhältnis zu ihm: Das 
Haus ist sein Eigentum, das er, jedenfalls 
gewohnheitsrechtlich, an männliche 
Nachkommen vererbt. 
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Nutzungsschema eines anatolischen Hauses 
1. Feuerstelle, 2. Regal mit Geschirr und zeug, 7. Vorräte (Samen, Dünger, Weizen, 
Gewürzen, 3. Vorräter im Kupferkessel, Mehl), 8. Vorratskiste Mehl, 9. Waschgelegen- 
4. Sack. mit Fleischvorrat. 5. Diwan, 6. Werk- heit. 10. Ofen, 11. Aussteuerkiste 
Der strikten Arbeitsteilung und der 
Zuordnung von Eigentumstiteln entlang 
der Linie, welche die Geschlechter 
trennt, entspricht auch ein Aspekt des 
Sozialisationsprozesses: Die von ihren 
Müttern eher verwöhnten Jungen begin: 
nen im Alter von 4—5 Jahren nach der 
Manier ihrer Väter tagsüber das Haus 
zu verlassen, den Vater bei seinen Arbei- 
ten zu begleiten und zu imitieren oder 
mit Gleichaltrigen ihres Geschlechtes zu 
spielen. Mädchen verbleiben dagegen im 
Umkreis ihrer Mütter und Schwestern, 
erlernen deren Tätigkeiten und halten 
sich so vornehmlich im Haus auf. Der in 
der Sozialisation allgemein, d.h. für bei- 
de Geschlechter angestrebte Erwerb von 
akill, der Verstandestätigkeit, die einem 
sagt, wie man sich gesellschaftlich richtig 
und angemessen verhält, so daß man vom 
ahnungslosen Kind, vom Verrückten und 
vom Tier unterscheidbar wird, bekommt 
hier schon deutlich geschlechtsspezifi- 
sche Konnotationen. 
Doch sind die Mitglieder eines Hau- 
ses nicht nur durch die prägnante kultu- 
relle Ausformung des Geschlechtsunter- 
schieds in der Arbeit und der Sozialisa- 
tion ungleichartig und voneinander dif- 
ferenziert. Ich will das an einigen zentra- 
len Beziehungen innerhalb der Familie 
zeigen, vorher jedoch noch anmerken, 
daß die in unserer Gesellschaft erfolgte 
Veränderung im Umgang mit patriarcha- 
lischer Autorität, in der Behandlung 
der Generationskonflikte überhaupt, 
und vor allem die derzeit vorgenomme- 
ne Neuerwerbung des Verhältnisses der 
Geschlechter, oft den Blick auf fremde 
Verhältnisse nicht so sehr öffnen, als 
verstellen, weil wir vorschnell anneh- 
men, sattsam Bekanntes, Überholtes 
Oder gar Skandalöses vor uns zu haben. 
An den unterschiedlichen Beziehun- 
gen, die ein Vater zu seinem Sohn und 
zu seiner Tochter unterhält, mag deutlich 
werden, wie die allgemein im Haus zwi- 
schen seinen Bewohnern herrschende 
Familiarität und Vertraulichkeit durch 
den Generations- und den Geschlechts- 
unterschied von Respekt und/oder Ver- 
meidung eingefärbt wird. Der Sohn 
teilt mit seinem Vater die Arbeitsphäre, 
wird von ihm in sie eingeführt und prak 
tiziert als Korrelat zu der Achtung und 
dem Gehorsam, die er ihm schuldet, 
eine Zurückhaltung, die es ihm z.B. ver- 
bietet, in Gegenwart seines Vaters zu 
rauchen oder ihm, jedenfalls in Gegen- 
wart anderer, zu widersprechen. 
Respekt drückt sich hier in Vermei- 
dung, Scham und Zurückhaltung aus. 
Die väterliche Forderung, der Sohn solle 
folgen, wird von der Einsicht ergänzt, 
daß der Sohn dem Vater letztlich nach- 
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