1. Ein anatolisches Dorf
na
folgen und ihn beerben wird. Schließlich
behauptet er sich gegenüber seinem Va-
ter, indem er, eventuell noch zu dessen
Lebzeiten, Oberhaupt des väterlichen
oder eines neuen Hauses wird. Die Zu-
rückhaltung und Fügsamkeit dagegen,
die eine Tochter gegenüber ihrem Vater
an den Tag legt, ist nicht von den Kon-
flikten der Rechtsnachfolge bestimmt:
Sie wird unter Tränen das Haus ihrer Ur-
sprungsfamilie verlassen, wenn sie heira-
tet, und auch nicht ihrer Mutter, von
der sie Abschied. nimmt, als weiblicher
Haushaltsvorstand nachfolgen, sondern
ihrer Schwiegermutter. Daher ist die Be-
ziehung zu ihrer Mutter von Vermeidung
und Konflikten eher frei. Die Vertraut-
heit dieser Beziehung wird nur durch
den Respekt ergänzt, den der im Ver-
gleich zum Geschlechtsunterschied, und
zumal bei den Frauen, weniger akzentu-
ierte Generationsabstand erfordert. Dem-
entsprechend ist das Verhältnis von Mut-
ter und Sohn sowohl von der Distanz ge-
prägt, die von ihrem unterschiedlichen
Alter und Geschlecht herrührt, wie auch
von der Vertrautheit, welche aus der
Mittlerrolle der Mutter in Konflikten
mit dem Vater und dem Umstand resul-
tieren, daß der Sohn seinem Vater auch
in der Rolle des Versorgers der Mutter
nachfolgt, falls sie länger leben sollte.
Die an sich vorbehaltlose Vertraut-
heit der Beziehung zwischen Geschwi-
stern erfährt im wesentlichen zwei Ein-
schränkungen:
Die Arbeitsbereiche von Brüdern und
Schwestern sind getrennt, Brüder haben
einen Anspruch auf häusliche Dienstlei-
stungen der Schwestern, diese einen auf
Schutz und Versorgung durch die Brü-
der. Der Ausdruck ihrer Vertrautheit
scheint, mag diese auch selbstvetständ-
lich ein Leben währen, durch ihre unter-
schiedlichen Geschlechterrollen ge-
hemmt. Zum zweiten findet die Familia-
rität der Vertrautheitsbeziehung par
excellence, der zwischen Schwestern,
die nach ihrer Heirat allerdings räum-
lich getrennt leben, in der Beziehung
zwischen Brüdern nicht in vollem Um-
fang ihr Gegenstück: Brüder sind auch
mögliche Rivalen und Konkurrenten
im Bereich der Produktion und Arbeit
und die an sich geltende Forderung nach
Solidarität und unbeschränkter, selbst-
verständlicher und nicht verrechenbarer
Hilfe zwischen Geschwistern findet ihre
Grenze an den divergierenden, individu-
ellen materiellen Interessen der Brüder.
Von ihnen ist die Beziehung der in die-
ser Hinsicht rechtlosen Schwestern frei.
Das Szenario dieser stark unterschiedlich
geformten Grundbeziehungen wird
durch das fast bar aller Vertrautheit,
ganz von Vermeidung und Respekt be-
stimmte Verhältnis der Schwiegertoch-
ter, der Fremden, die ins Haus kommt,
zur Familie ihres Mannes ergänzt. Aus-
gedehnte, manchmal lebenslange
Sprechverbote zwischen Schwiegervater
und der Frau des Sohnes und eine kon-
fliktträchtige Beziehung zur Schwieger-
mutter, die ihr die Arbeit anweist und
sie gerade dadurch zu ihrer Nachfolge-
rin macht, sind Ausdruck dieser Distanz
Aus der Perspektive des einzelnen,
etwa eines verheirateten Mannes, sind
der gesellschaftliche Raum des Hauses
und damit sein Verhalten durch die je-
weilige Anwesenheit sehr verschiedener
Personen — des Vaters, der Mutter, der
Schwester, des Bruders, der Frau — in
einer Weise zersplittert und differenziert,
die die im Haus verbrachte Lebenszeit
als eine Serie ständig — und in unseren
Augen oft sprunghaft — wechselnder situa-
tiver Kontexte erscheinen läßt.
Gegen den weitverbreiteten Eindruck,
die vorherrschende Familienform in Ana:
tolien sei die Großfamilie — gebildet aus
zwei oder mehr Ehepaaren gleicher oder
verschiedener Generationen und ihren
Kindern — ist festzuhalten, daß 60% al-
ler türkischen Familien Kernfamilien
sind, d.h. aus einem Ehepaar mit Kin-
dern und eventuell einem Elternteil be-
stehen. Dieser falsche Eindruck hat sich
wohl vor allem deshalb bilden können,
weil das Ideal der Großfamilie lange
Zeit in Anatolien Geltung hatte, wenn
es auch angesichts hoher Kindersterblich-
keit und geringer Lebenserwartung nur
relativ selten realisiert wurde. Dies be-
deutet aber nicht, daß die Beziehungen
zwischen Großeltern und Enkeln, zwi-
schen verheirateten Brüdern, auch die
bereits genannte zwischen Schwiegerel-
tern und Schwiegertochter, unwichtig ge-
worden wären. Sie spielen sich jedoch in
der Mehrzahl der Fälle nicht oder nicht
mehr innerhalb ein und desselben Hauses
ab, da die Söhne heute zunehmend gleich
bei ihrer Heirat oder einige Jahre danach
einen eigenen Haushalt gründen.
DAS DORF
Die Vielfältigkeit und Hierarchie der inter-
nen Beziehungen eines Hauses läßt ein
Mann hinter sich. wenn er die Schwelle
EN AMATLISCHES DORF
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seines Hauses betritt und in die Männer-
Öffentlichkeit des Dorfes tritt. Die ande-
ren Häuser des Dorfes sind für ihn haram.
d.h. rituell nicht ohne weiteres zugäng-
lich; er tritt außerhalb des Hauses ande-
ren Männern in der Öffentlichkeit und
als prinzipiell gleicher und zugleich ver-
einzelt entgegen. Er ist der Repräsentant
seiner Familie, d.h. er verkörpert ihre
Einheit, und seine eigene Ehre, wie die
jeden Mannes, dem er begegnet, ist un-
trennbar mit dem individuellen Verhal-
ten jeden einzelnen Familienmitglieds,
insbesondere dem sexuellen Wohlverhal-
ten der Frauen seines Haushaltes, ver-
knüpft. Dieser Aspekt seiner Ehre,
namuz, stellt sich wie eine Mitgliedskar-
te in die Männergesellschaft dar, die
nicht erworben, wohl aber verloren wer-
den kann. Dabei tangiert das Verhalten
eines Mannes gegenüber einer Frau 2u5s
einem anderen Haushalt nur geringfügig
seine eigene Ehre, in vollem Umfang
aber die der Brüder oder des Ehemannes
der betreffenden Frau. Die gröbsten
Schimpfworte und die ehrenrührigsten
Beleidigungen unter türkischen Männern
stellen daher nicht so sehr abschätzige
Charakterisierungen des Gegners dar,
sondern bestehen aus der bloßen Absichts-
erklärung, mit der ihm zugehörigen Mut-
ter oder Frau zu schlafen.
Der Zugang zur Öffentlichkeit, also
zum politisch-rechtlichen Bereich und
im Islam damit auch dem religiösen, ist
an die Aufrechterhaltung bestimmter
Standards von familialer Moral gebun-
den; die Zugehörigkeit zu umma, der Ge-
meinde der Gläubigen, die prinzipiell
gleich sind, und zum Kreis der Männer,
die Dorfpolitik machen, setzt die Durch-
setzbarkeit väterlicher Autorität in der
Familie, deren Schutz und Versorgung
voraus.
Die Orte, an denen sich Männer ver-
sammeln, sind die Moschee und das Kaf-
feehaus, für männliche Jugendliche deren
heutige lebensgeschichtliche Vorläufer,
die Schule und die Gruppe der Gleichal-
trigen.
Die Unterwerfung der Männer unter
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