Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1979, Jg. 11, H. 43-47, [48])

mehrere Dörfer übergreifende Netz einer 
Vielzahl von persönlichen Beziehungen 
unter Männern, im Rahmen von größe- 
ren Kollektiven, neu geknüpft wırd. 
EMIGRATION 
Abschließend soll auf diejenigen der ge- 
nannten institutionellen Voraussetzungen 
der Lebenswelt anatolischer Bauern hin- 
gewiesen werden, die sich im Verlaufe 
der Arbeitsemigration am nachhaltigsten 
ändern könnten. 
Das Haus verliert angesichts stark ver- 
ringerter häufig flukturierender Zusam- 
mensetzung seinen Charakter als voll- 
ständiger Mikrokosmus der nach Alter, 
Generationsabstand und Geschlecht ge- 
gliederten Sozialbeziehungen. Manch- 
mal bleibt ein Elternteil in der Türkei, 
öfter noch einige Kinder, und die in 
Anatolien noch bedeutsame Orientie- 
rung an alten Leuten, am Alter als einer 
Lebensphase überhaupt, wird unmöglich. 
Gleiches gilt für die Bindungen zu Brü- 
dern, Schwägern, Nachbarn etc., kurz 
all den sozialen Beziehungen, die im Dorf 
nicht nur lebenslang gültig, sondern oft 
auch alltäglich aktualisiert werden. 
Es ist ferner nicht abzusehen, wel- 
chen Verlauf die Generationskonflikte 
beider Geschlechter in der hiesigen poly- 
ethnischen Situation und angesichts der 
Möglichkeit der jungen Leute nehmen 
werden, Verhaltensmuster unserer Gesell 
schaft zu übernehmen. In diesem Zusam- 
menhang können im Kontakt mit türki- 
schen Arbeitsemigranten bei uns Mißver- 
ständnisse daraus entstehen, daß wir ein 
bestimmtes der gerade in der türkischen 
Familie sehr divergenten Verhaltensmu- 
ster nicht als Element einer von zahlrei- 
chen sozialen Rollen, sondern — gemäß 
unserem Anspruch als autonome Indi- 
viduen vor allem konsistent zu handeln — 
als festen Charakterzug einer Person deu- 
ten. Doch bedeutet der Umstand, daß 
ein Sohn in Gegenwart seines Vaters et- 
wa seine abweichende politische Auffas- 
sung nicht äußert, eben nur, daß er sei- 
nem Vater Respekt erweist, und nicht, 
daß er abweichende Auffassungen nicht 
hegt, an anderer Stelle auch äußert, auch 
nicht, daß der Vater nicht drum wüßte. 
Eine derartige Differenzierung vielfälti- 
ger sozialer Kontexte und scheinbar 
widersprüchlicher Verhaltensnormen 
irritiert das hiesige Ideal der immer 
gleichen, stabilen und kontextunabhängi- 
gen, „„persönlichen” Innerlichkeit, die 
gemäß möglichst einheitlichen Regeln so- 
ziale Beziehungen aus sich selbst heraus- 
zuspinnen meint. Die ursprüngliche Be- 
deutung von persona-Maske ist uns 
Fremd geworden. 
Für den Sozialisierungsprozeß hier 
aufwachsender türkischer Kinder könnte 
auch die hier, besonders gravierend für 
die Frauen, notwendig werdende Tren- 
nung von Arbeit und Interaktion folgen- 
reich werden. Lernen qua Imitation im 
Bereich der Arbeit und der außerhäusli- 
che Kontakt mit Nichtgleichaltrigen ver- 
liert an Bedeutung gegenüber den von den 
Curricula öffentlicher Schulen vorgesehe- 
nen Prozessen der Wissensvermittlung 
und gegenüber der Orientierung an 
Gleichaltrigen. 
Für die Lebenswelt der Männer 
scheint neben der einschneidenden Erfah- 
rung, durch die Verrichtung von zeitlich 
genau limitierten, monoton sich wieder- 
nolenden Arbeiten, die Versorgung ihrer 
Familie zu sichern, insgesamt vor allem 
der Umstand ausschlaggebend, daß die 
dörfliche Zwischenzone von dauerhaften 
und zuverlässigen sozialen Beziehungen 
zu Verwandten und Nachbarn entfällt; 
es entsteht gewissermaßen ein gesell- 
schaftliches Vakuum zwischen dem Le- 
ben in fragmentierten Familien, der Iso- 
lation am außerhäuslichen Arbeitsplatz 
und den auch in türkischen Städten ge- 
bildeten losen Netzen persönlicher Be- 
ziehungen, vor allem innerhalb einzelner 
regionaler, ethnischer oder religiös-poli- 
tischer Kollektive. Diesen sind etwa 
meist die hiesigen Männertreffpunkte 
(Lokale, Kaffees, Vereine, Läden etc.) 
zugeordnet. 
In dieser Perspektive können die 
Ghettobildung, zu denen Arbeitsemi- 
granten aus Anatolien auch in anderen 
europäischen Industriezentren neigen, 
auch als ein Versuch zu sehen sein, in 
der Diaspora die ursprüngliche Lebens: 
welt wenigstens ansatzweise zu rekon- 
struleren. 
Nina Nissen 
Vertrautheit, Respekt, Meidung 
Zum Verhältnis von sozialen Beziehungen und Raum 
Eine Typologisierung der Orte, an denen 
Frauen ihren Alltag verbringen, in ge- 
schlossene und offene Räume ermög- 
licht zunächst eine allgemeine Charak- 
terisierung der mit diesen Orten ver- 
knüpften, verschiedenen Grundmustern 
des Verhaltens. Die Anwesenheit bzw. 
Abwesenheit von Männern erweist sich 
dabei als entscheidendes Moment. Zu- 
gleich sind mit diesen Orten verschiede- 
ne Arbeitstätigkeiten der Frauen ver- 
bunden. Schließlich lassen sich die ein- 
zelnen und unterschiedlichen sozialen 
Beziehungen, die Frauen mit bestimm- 
ten Personen ihres Haushalts und ihrer 
Nachbarschaft eingehen und unterhal- 
ten, als Ausdrücke der zugrundeliegen- 
den Verwandtschafts- und Sozialstruk- 
tur betrachten. 
Geschlossene Räume wie das Haus, 
mehr noch das Backhaus und ausschließ- 
lich das hamam sind in besonderer Weise 
den Frauen zugeordnet, das Haus ist der 
bedeutendste Lebens- und Arbeitsbe- 
reich der Frauen. 
Die Umgangsformen der Frauen im 
Haus sind von Unbefangenheit, Ver- 
trautheit und Intimität geprägt. Ihre 
Gespräche sind offen und direkt und 
werden meist von Scherzen und Geläch- 
ter begleitet. Die Mädchen, und, bis zu 
ihrem fünften Lebensalter die Jungen, 
halten sich fast ständig in der Nähe der 
Mütter oder älteren Schwestern auf und 
beteiligen sich sowohl an den Unterhal- 
tungen als auch an den Arbeiten. Ihre An- 
wesenheit scheint auch Themen und Ver- 
lauf der Gespräche unter den Frauen 
nicht zu beschränken. Die Frauen sitzen 
meist in der Mitte des Zimmers auf dem 
Fußboden oder auf dem Divan, aber im- 
mer in einer Gruppe, eng beisammen. 
Betreten Männer das Haus, ziehen 
die Frauen ihre Kopftücher über den 
Mund, brechen die Unterhaltung ab, Be- 
sucherinnen verlassen möglicherweise 
das Haus und die Frauen des Hauses zie- 
hen sich, ie nach Status der eintretenden 
Im Hause 
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