Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1979, Jg. 11, H. 43-47, [48])

SCHLUSSFOÖLGERUNG 
Wohnräume mit einer Nutzung, wie sie 
hier in Westberlin oder der BRD üblich 
sind, finden wir bei den türkischen Mit- 
bewohnern in dem Sinne nicht wieder. 
So hat der Eingang und Flur nicht nur 
die Funktion Menschen hinein oder 
hinaus zu lassen, sondern auch ein Ritual, 
nämlich, das Ausziehen der Schuhe beim 
Eintreten in die Wohnung aufzunehmen, 
um so die Trennung vom Äußeren, Öf- 
fentlichen zum inneren, privaten Bereich 
zu unterstreichen. 
Der Aufenthaltsraum, meistens der 
Raum, der ursprünglich als Wohnzimmer 
konzipiert war, ist für die türkische Fa- 
milie der wichtigste Raum überhaupt. 
Hier findet das ganze tägliche Leben, 
wie der Aufenthalt aller Familienmitglie- 
der, das gemeinsame Essen, das Spielen 
der Kinder, das Empfangen und Bewir- 
ten der Gäste etc., statt. 
In der Küche werden die Lebensmittel 
aufbewahrt und die täglichen Mahlzeiten 
zubereitet. Eingenommen werden sie je- 
doch im Aufenthaltsraum. Ein besonderer 
Eßraum scheint nicht erforderlich zu sein. 
Das Zimmer der Eltern hat zwei Funk- 
tionen. Einmal schlafen hier die Eltern 
mit den Kleinkindern, zum anderen wer- 
den hier alle bedeutsamen, familiären Be- 
lange verwaltet. Wichtige Dinge wie Geld, 
Papiere, Süßigkeiten, Trockenobst, Wert- 
gegenstände, Gästegeschirr etc. werden 
hier, in erster Linie unter der Obhut der 
Mutter, aufbewahrt. Außer der Mutter, 
so scheint es, hat in ihrem Auftrag die 
älteste Tochter zeitweise einen Zugang 
zu dem meistens verschlossenen Schrank, 
In dem sich diese Dinge befinden. Darü- 
ber hinaus steht das Zimmer der Eltern 
in einem spezifischen Bezug zum Bad. 
Hier gilt als wesentlich, das rituelle Wa- 
schen vor dem Gebet und nach dem Bei- 
schlaf. 
© Spätestens ab der Pubertät erhalten 
die Kinder geschlechterspezifische Schlaf- 
raume, die durchaus zu zweit oder zu meh- 
'eren genutzt werden können. Zu beach- 
ten ist aber, daß die Räume separate Ein- 
Jänge haben, wodurch ein unbeobachteter 
Gang zur Toilette gewährleistet wird, denn 
es scheint, daß die Benutzung der Toilet- 
te ein anderes Schamgefühl impliziert als 
wir es kennen. Desweiteren sollte das 
Zimmer der Mädchen nah zum Ekern- 
zimmer hin orientiert sein, während das 
der Jungen durchaus in der Nähe des 
Wohnungseingangs liegen könnte. Hier- 
mit soll vermutlich ein größerer Schutz 
und eine Kontrolle der Mädchen gegen- 
über dem öffentlichen Raum gewährlei- 
stet werden. 
Folgende räumliche Forderungen wer- 
den gestellt: 
In unserer Untersuchung haben wir festge- 
stellt, daß die meisten Familien in der 
Heimat für die häufigen Besuche ein 
Gästezimmer hatten. Daß nach der Mi- 
gration viele Familien hierauf verzichte- 
ten, ist vermutlich auf ökonomische 
Gründe zurückzuführen. 
Mit der Migration nach Westberlin oder 
in die BRD erhielten die Türken einen 
sehr mobilen Status. Zum einen ist es 
auf die Heimatreisen, zum anderen auf 
die häufigen Wohnungswechsel zurückzu- 
führen. Aus diesem Grunde wurden viele 
Koffer, Taschen und Schachteln erforder- 
lich. Da die Räumlichkeiten oft zu eng 
sind, zerstören diese Gegenstände des öf- 
teren den gestalterischen Wert ihrer Woh- 
nungen. Eine geeignete Abstellfläche oder 
ein Abstellraum wäre deshalb sehr nütz- 
lich. 
Die hohen psychischen und physischen 
Belastungen der Eltern bei der Arbeit 
einerseits, andererseits der unterschiedli- 
che Tagesablauf der einzelnen Familien- 
mitglieder, den sie gezwungen sind, an- 
zunehmen, sind Gründe dafür, daß mit 
der Dauer des Aufenthalts Maßnahmen 
bezüglich der Kleinkinder im Elternzim: 
mer erforderlich werden könnten, um 
die nötige Reproduktion der Eltern zu 
gewährleisten. Es ist aber darauf zu ach 
ten, daß die Kleinkinder weiterhin 
auch räumlich einen engen Bezug und 
eine Zugänglichkeit zu ihren Eltern be- 
halten. 
Türkische Kinder und Jugendliche 
stecken in einem besonderen Dilemma, 
denn sie jonglieren zwischen der türki- 
schen Kultur ihrer Eltern und der einhei- 
mischen Kultur, mit der sie immer dann 
konfrontiert werden, wenn sie die Woh- 
nung oder das Haus verlassen. Die Kolli- 
sion beider Kulturen bekommen sie am 
deutlichsten zu spüren. So könnte es 
zum Beispiel ein Problem sein, deutsche 
Freunde in die elterliche Wohnung einzu- 
laden, oder für Schüler und Studenten 
ungestört zu lernen. In diesem Zusam- 
menhang scheint die Reaktivierung eines 
Gästezimmers sehr günstig. Dieses Zim- 
mer könnte, wenn keine Gäste da sind, 
zu einem sporadisch nutzbaren Aufent- 
haltsraum werden, in dem sich eine von 
den anderen Familienmitgliedern unge- 
störte Kommunikationsmöglichkeit bie- 
ten. 
Problematisch ist die Situation der 
türkischen Frauen. Ihnen wurde mit der 
Migration ein wesentlicher Teil ihrer 
Lebensbereiche genommen, nämlich der 
Bereich außerhalb der Wohnung bzw. 
des Hauses. Die Männer verhalten sich 
entsprechend den Lebensgewohnheiten 
in der Heimat, nämlich außerhalb des 
Wohnbereichs in den Teehäusern, Spiel- 
hallen etc., unter Fremden. Da aber die 
Bereichstrennung (Bereiche der Männer 
— Bereiche der Frauen) aufrechterhalten 
wird, müßten neue Bereiche intimen 
Charakters für die Frauen geschaffen 
werden, die für Fremde nicht direkt zu- 
gänglich sind. In Berlin zum Beispiel 
scheinen die Hinterhöfe der Arbeiter- 
quartiere sehr geeignet, Kommunika- 
tionszentren der türkischen Frauen zu 
werden. 
Als wesentlich erscheint die Erhaltung 
kulturspezifischer Gestaltungsmomente 
innerhalb der Wohnung, wie zum Beispiel 
im Aufenthaltsraum die hierarchisch, 
in einer Reihe angeordneten Sitzgelegen- 
heiten, welche den Gästen entsprechend 
ihrer sozialen Stellung angeboten werden, 
mit einer Perspektive auf die gegenüber- 
liegenden Wand, die durch relativ hoch 
hängende Bilder und einem Schrank 
gestaltet wird, auf dem sich Gegenstände 
befinden, die für die Türken anscheinend 
von besonderer Bedeutung sind. Um das 
Verhältnis von Sitzgruppe zur Wand zu 
erhalten, ist es notwendig, geeignete 
Flächen zur Verfügung zu stellen. 
Die zukünftige Entwicklung der tür- 
kischen Lebensgewohnheiten in länger- 
fristigen Zeiträumen zu betrachten, ist 
nur sehr schwer möglich. Beide Kulturen 
unterliegen nämlich einem Anpassungs- 
prozeß, der sowohl für die Türken als 
vielleicht auch für die einheimische Be- 
völkerung unvorhersehbare Veränderun- 
gen nach sich ziehen könnte. Dennoch 
scheinen die hier aufgezeigten tenden- 
ziellen Entwicklungen zur Zeit, wie auch 
in nacher Zukunft, wesentliche Momen- 
te Für die Planung zu sein. 
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