SCHLUSSFOÖLGERUNG
Wohnräume mit einer Nutzung, wie sie
hier in Westberlin oder der BRD üblich
sind, finden wir bei den türkischen Mit-
bewohnern in dem Sinne nicht wieder.
So hat der Eingang und Flur nicht nur
die Funktion Menschen hinein oder
hinaus zu lassen, sondern auch ein Ritual,
nämlich, das Ausziehen der Schuhe beim
Eintreten in die Wohnung aufzunehmen,
um so die Trennung vom Äußeren, Öf-
fentlichen zum inneren, privaten Bereich
zu unterstreichen.
Der Aufenthaltsraum, meistens der
Raum, der ursprünglich als Wohnzimmer
konzipiert war, ist für die türkische Fa-
milie der wichtigste Raum überhaupt.
Hier findet das ganze tägliche Leben,
wie der Aufenthalt aller Familienmitglie-
der, das gemeinsame Essen, das Spielen
der Kinder, das Empfangen und Bewir-
ten der Gäste etc., statt.
In der Küche werden die Lebensmittel
aufbewahrt und die täglichen Mahlzeiten
zubereitet. Eingenommen werden sie je-
doch im Aufenthaltsraum. Ein besonderer
Eßraum scheint nicht erforderlich zu sein.
Das Zimmer der Eltern hat zwei Funk-
tionen. Einmal schlafen hier die Eltern
mit den Kleinkindern, zum anderen wer-
den hier alle bedeutsamen, familiären Be-
lange verwaltet. Wichtige Dinge wie Geld,
Papiere, Süßigkeiten, Trockenobst, Wert-
gegenstände, Gästegeschirr etc. werden
hier, in erster Linie unter der Obhut der
Mutter, aufbewahrt. Außer der Mutter,
so scheint es, hat in ihrem Auftrag die
älteste Tochter zeitweise einen Zugang
zu dem meistens verschlossenen Schrank,
In dem sich diese Dinge befinden. Darü-
ber hinaus steht das Zimmer der Eltern
in einem spezifischen Bezug zum Bad.
Hier gilt als wesentlich, das rituelle Wa-
schen vor dem Gebet und nach dem Bei-
schlaf.
© Spätestens ab der Pubertät erhalten
die Kinder geschlechterspezifische Schlaf-
raume, die durchaus zu zweit oder zu meh-
'eren genutzt werden können. Zu beach-
ten ist aber, daß die Räume separate Ein-
Jänge haben, wodurch ein unbeobachteter
Gang zur Toilette gewährleistet wird, denn
es scheint, daß die Benutzung der Toilet-
te ein anderes Schamgefühl impliziert als
wir es kennen. Desweiteren sollte das
Zimmer der Mädchen nah zum Ekern-
zimmer hin orientiert sein, während das
der Jungen durchaus in der Nähe des
Wohnungseingangs liegen könnte. Hier-
mit soll vermutlich ein größerer Schutz
und eine Kontrolle der Mädchen gegen-
über dem öffentlichen Raum gewährlei-
stet werden.
Folgende räumliche Forderungen wer-
den gestellt:
In unserer Untersuchung haben wir festge-
stellt, daß die meisten Familien in der
Heimat für die häufigen Besuche ein
Gästezimmer hatten. Daß nach der Mi-
gration viele Familien hierauf verzichte-
ten, ist vermutlich auf ökonomische
Gründe zurückzuführen.
Mit der Migration nach Westberlin oder
in die BRD erhielten die Türken einen
sehr mobilen Status. Zum einen ist es
auf die Heimatreisen, zum anderen auf
die häufigen Wohnungswechsel zurückzu-
führen. Aus diesem Grunde wurden viele
Koffer, Taschen und Schachteln erforder-
lich. Da die Räumlichkeiten oft zu eng
sind, zerstören diese Gegenstände des öf-
teren den gestalterischen Wert ihrer Woh-
nungen. Eine geeignete Abstellfläche oder
ein Abstellraum wäre deshalb sehr nütz-
lich.
Die hohen psychischen und physischen
Belastungen der Eltern bei der Arbeit
einerseits, andererseits der unterschiedli-
che Tagesablauf der einzelnen Familien-
mitglieder, den sie gezwungen sind, an-
zunehmen, sind Gründe dafür, daß mit
der Dauer des Aufenthalts Maßnahmen
bezüglich der Kleinkinder im Elternzim:
mer erforderlich werden könnten, um
die nötige Reproduktion der Eltern zu
gewährleisten. Es ist aber darauf zu ach
ten, daß die Kleinkinder weiterhin
auch räumlich einen engen Bezug und
eine Zugänglichkeit zu ihren Eltern be-
halten.
Türkische Kinder und Jugendliche
stecken in einem besonderen Dilemma,
denn sie jonglieren zwischen der türki-
schen Kultur ihrer Eltern und der einhei-
mischen Kultur, mit der sie immer dann
konfrontiert werden, wenn sie die Woh-
nung oder das Haus verlassen. Die Kolli-
sion beider Kulturen bekommen sie am
deutlichsten zu spüren. So könnte es
zum Beispiel ein Problem sein, deutsche
Freunde in die elterliche Wohnung einzu-
laden, oder für Schüler und Studenten
ungestört zu lernen. In diesem Zusam-
menhang scheint die Reaktivierung eines
Gästezimmers sehr günstig. Dieses Zim-
mer könnte, wenn keine Gäste da sind,
zu einem sporadisch nutzbaren Aufent-
haltsraum werden, in dem sich eine von
den anderen Familienmitgliedern unge-
störte Kommunikationsmöglichkeit bie-
ten.
Problematisch ist die Situation der
türkischen Frauen. Ihnen wurde mit der
Migration ein wesentlicher Teil ihrer
Lebensbereiche genommen, nämlich der
Bereich außerhalb der Wohnung bzw.
des Hauses. Die Männer verhalten sich
entsprechend den Lebensgewohnheiten
in der Heimat, nämlich außerhalb des
Wohnbereichs in den Teehäusern, Spiel-
hallen etc., unter Fremden. Da aber die
Bereichstrennung (Bereiche der Männer
— Bereiche der Frauen) aufrechterhalten
wird, müßten neue Bereiche intimen
Charakters für die Frauen geschaffen
werden, die für Fremde nicht direkt zu-
gänglich sind. In Berlin zum Beispiel
scheinen die Hinterhöfe der Arbeiter-
quartiere sehr geeignet, Kommunika-
tionszentren der türkischen Frauen zu
werden.
Als wesentlich erscheint die Erhaltung
kulturspezifischer Gestaltungsmomente
innerhalb der Wohnung, wie zum Beispiel
im Aufenthaltsraum die hierarchisch,
in einer Reihe angeordneten Sitzgelegen-
heiten, welche den Gästen entsprechend
ihrer sozialen Stellung angeboten werden,
mit einer Perspektive auf die gegenüber-
liegenden Wand, die durch relativ hoch
hängende Bilder und einem Schrank
gestaltet wird, auf dem sich Gegenstände
befinden, die für die Türken anscheinend
von besonderer Bedeutung sind. Um das
Verhältnis von Sitzgruppe zur Wand zu
erhalten, ist es notwendig, geeignete
Flächen zur Verfügung zu stellen.
Die zukünftige Entwicklung der tür-
kischen Lebensgewohnheiten in länger-
fristigen Zeiträumen zu betrachten, ist
nur sehr schwer möglich. Beide Kulturen
unterliegen nämlich einem Anpassungs-
prozeß, der sowohl für die Türken als
vielleicht auch für die einheimische Be-
völkerung unvorhersehbare Veränderun-
gen nach sich ziehen könnte. Dennoch
scheinen die hier aufgezeigten tenden-
ziellen Entwicklungen zur Zeit, wie auch
in nacher Zukunft, wesentliche Momen-
te Für die Planung zu sein.
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