Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1979, Jg. 11, H. 43-47, [48])

raum sichtbar miteinander verzahnen. 
Die Bedeutung dieses privaten Stra- 
ßenbereichs ist daran erkennbar, daß 
auf ihn in den Altstadtgebieten an- 
scheinend niemals verzichtet wurde, 
auch wenn dadurch die Anlage eines 
Fußweges nicht möglich war. (Abb. 40) 
Wahrscheinlich diente er früher dem Be- 
und Entladen und wie z.T. heute noch 
der Warenpräsentation. (Abb. 41) Nur 
in den neuerlich an die geschäftliche 
Entwicklung angepaßten Straßen fin- 
det man den bei uns üblichen Stra- 
Benquerschnitt mit Fußwegen bis an 
die Häuserfronten. 
Das heißt jedoch nicht, daß der Fuß- 
gänger in den anderen Straßen be- 
nachteiligt oder sogar verdrängt wird. 
Allgemein ist die Entflechtung des 
Verkehrs mit den fatalen Folgen ei- 
ner überzogenen Selbstsicherheit der 
Verkehrsteilnehmer in der Delfter 
Innenstadt trotz (oder wegen? ) der 
Enge der Straßen nicht so weit vor- 
angetrieben worden wie in vergleich- 
baren Städten der Bundesrepublik. 
In dieser Situation sind die Kraftfah- 
rer durch die Vielzahl von Radfah- 
rern und Fußgängern daran gewöhnt, 
man kann auch sagen gezwungen, auf 
langsamere Verkehrsteilnehmer Rück- 
sicht zu nehmen. 
Hinzu kommt, daß die Kraftfahrer, 
wie oben schon erwähnt, auf bauli- 
che Widrigkeiten, die erhöhte Auf- 
merksamkeit und reduzierte Fahrge- 
schwindigkeit erfordern, auf den 
innerstädtischen Straßen eingestellt 
sind: insbesondere die Buckel der 
Grachtenbrücken stellen die Delfter 
Schwellen in ihrer Behinderung weit 
in den Schatten. Zusätzlich fordern 
neben dem ebenfalls schon genann- 
ten kleinwelligen Pflaster unvermute- 
te Richtungsvorsätze und engste Ra- 
dien einiges vom Autofahrer. (Abb. 42) 
In der Innenstadt kann man auch sehen, 
daß Schwellen und andere für uns 
ungewöhnliche Informationen allein 
durch die Pflasterung bestimmt schon 
seit den 60er Jahren gezielt zur Ver- 
kehrsbeeinflussung eingesetzt worden 
sind. (Abb. 43) 
Man muß wohl auch sehen, daß 
Delft auch für Holland eine Son- 
dersituation darstellt, wo eine 
durch die große Technische Hoch- 
schule anscheinend recht spezifi- 
sche Sozialstruktur den Nährboden 
für besondere städtebauliche Lösun- 
gen bildet. 
Als 9. Punkt muß schließlich auch 
die allgemeine politische Kultur in Hol- 
land als eine wesentliche Voraussetzung 
für städtebauliche Leistungen, die die 
Mitwirkung der Bewohner unabdingbar 
für ihr Gelingen erfordern, genannt wer- 
den. Nur scheinbar harmlos enthalten 
die Maßnahmen zur Verkehrsberuhi- 
gung brisanten politischen Sprengstoff 
— interpretieren sie doch den Straßen- 
raum neu in Richtung mehr Quartier- 
Öffentlichkeit. 
_ Soll das nun heißen (entgegen aller 
bisherigen Euphorie): Delfter Modell 
— schön und aut. aber nicht übertrag- 
bar auf unsere Verhältnisse, weil die 10- 
kalen, historischen und politischen Vor- 
aussetzungen fehlen? 
Nein: 
Wenn man in den Altbauquartieren von 
Delft die Straßen sieht, die noch nicht 
umgebaut sind, bietet sich oft ein ähn- 
liches Bild wie bei uns in vergleichba- 
ren Vierteln: (Abb. 44) 
® schnurgerader Fahrbahnverlauf, 
® auf einer oder auch auf beiden Sei- 
ten die Reihen parkender Autos in 
Längsaufstellung. 
voneinander durch den Fahrbahn- 
graben getrennte schmale Fußwege 
auf beiden Straßenseiten. 
Ganz so ungebrochen, wie ich es 
dargestellt habe, kann die Entwicklung 
auch hier nicht gewesen sein. Es han- 
delt sich wohl zumindest um ein ausge- 
sprochenes Wiederentdecken nicht nur 
der gestalterischen, sondern auch der 
funktionalen Qualitäten der Altstadt. 
Ohne eine von Durchstehvermögen ge- 
tragene zielstrebige politische Kleinar- 
beit inklusive kräftigem Druck von un- 
ten wird es auch in Delft nicht möglich 
gewesen sein, in einem solchen Umfang 
aus solchen Straßen Paradiese zu ma- 
chen — anfangs sogar ohne rechtliche 
Absicherung — und diese Arbeit zügig 
fortzusetzen. (Abb. 45) Deshalb meine 
ich, daß Delft für uns durchaus Modellcha- 
rakter haben kann. Meine Ausführungen 
sollten jedoch zeigen, daß es bei uns noch 
viel größerer politischer Anstrengungen 
zur Realisierung einer flächendeckenden 
Verkehrsberuhigung nach dem Prinzip 
der Mischung der Verkehrsarten bedarf, 
da hier die historisch bedingten gewohn- 
heitlichen Voraussetzungen und Anknüp 
fungspunkte weniger gegeben sind als in 
Delft (wenn sie überhaupt vorhanden 
sind). 
Meine Ausführungen sollten dabei 
auch zeigen, daß wir bei der Verkehrs- 
beruhigung unserer Wohnbauquartiere 
z.B. aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg 
entsprechend ihrer vollkommenen An- 
dersartigkeit (Abb. 46) zu ganz anderen 
Lösungen als in Delft kommen müssen — 
eigentlich eine Selbstverständlichkeit, auf 
die hinzuweisen sich erübrigen müßte. Stu: 
dentenentwürfe z.B. zeigen jedoch, daß 
dem nicht so ist. Das Beispiel Delft 
scheint oft zu einem Musterkatalog zu 
degenerieren, statt Ansporn zu sein für 
eigene, die jeweilige Situation berück- 
sichtigende Überlegungen zur Verbesse- 
rung der Qualität des öffentlichen Rau- 
mes in unseren Wohnquartieren. 
Mein Fazit: 
Verkehrsberuhigung als Sanierungsmaß- 
nahme ja (selbstverständlich die situa- 
tionsspezifische Lösung), aber nicht als 
das neue Allheilmittel, sondern ge- 
zielt einsetzen dort, wo 
8 städtebauliche und 
® soziale 
Strukturen noch relativ intakt sind (was 
immer man darunter verstehen mag), 
wo jedoch 
2 Impulse im öffentlichen Raum not- 
wendig sind, um 
® eine Revitalisierung des. Baubestan- 
des einzuleiten oder zu stützen. 
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Abb. _ 
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