Helmut Klippel, Ulla Pauen:
Kind und Verkehr
Abb. 44
Abb. 45
Abb. 46
Ich möchte ein solches Vorgehen
einmal analog zur Gebäudemodernisie-
rung „städtebauliche Modernisierung”
nennen. Verkehrsberuhigung und Woh-
nungsmodernisierung sollten zusammen
gesehen werden. Bedingt zwar Verkehrs-
beruhigung nicht die Wohnungsmoder-
nisierung, so kann jedoch umgekehrt
Wohnungsmodernisierung eine Verkehrs-
veruhigung erforderlich machen, um da-
mit die äußeren Voraussetzungen für ei-
nen nachhaltigen Modernisierungseffekt
zu schaffen
Die Diskussion um die Verkehrsberuhi-
gung hat die Straße in den letzten Jah-
ren wieder stärker in den Mittelpunkt
der Betrachtung gerückt. Die Notwen-
digkeit einer Veränderung der verkehr-
lichen Situation wird kaum noch be-
stritten. Über die „richtigen und wich-
tigen’ Ziele gibt es noch deutliche Mei-
nungsunterschiede. Zwei Ansatzpunkte
sind jedoch unstrittig:
1. Die Verkehrssicherheit:durch eine
Umgestaltung, des Straßenraumes
soll auf das Fahrverhalten der Auto-
fahrer eingewirkt werden; die Fahr-
geschwindigkeiten sollen gesenkt wer-
den.
Die Wohnumfeldqualität: der Straßen.
raum soll von seiner einseitigen Nut-
zung als Transportband für den mo-
torisierten Verkehr befreit werden.
Er soll wieder vielfältig benutzbar
sein und zumindest in den Althaus-
quartieren einen Teil des Freiflächen-
defizits ausgleichen.
Eine fast ausschließlich an verkehrs-
technischen Kriterien orientierte Pla-
nung hat auf die Interessen der nicht—
motorisierten Verkehrsteilnehmer wenig
Rücksicht genommen. Fußgänger und
Radfahrer gerieten im Zuge der Mobili-
tätseuphorie in Vergessenheit, ihnen
zugedachte Bereiche beschränken sich
auf Restflächen. Richtlinien--gerechter
Straßenbau lebt vielfach in deutlichem
Konflikt mit den städtebaulichen Not-
wendigkeiten. Die Koordination der
Verkehrsplanung mit den anderen Fach-
planungen zu einer integrierten Entwick:
lungsplanung ist selten gelungen.
Die Kinder haben unter dieser Ent-
wicklung besonders stark zu leiden:
®» Die schon unzureichende Versorgung
mit wohnungsnahen Spielflächen und
—-möglichkeiten — insbesondere in den
hochverdichteten Altbauquartieren —
wird durch die Zunahme der Verkehrs-
flächen für den motorisierten Individual
verkehr weiter verschlechtert. Exempla-
risch sei hier die Situation in einem
Berliner Wohnquartier, der „‚Schöne-
berger Insel’’, genannt:
In einem Gebiet, in dem bereits heute
eine Unterversorgung mit hausnahen
Spielflächen von 50 v.H. festgestellt
wird, soll sich durch den geplanten Bau
der Stadtautobahn ‚„,‚Westtangente‘’ die
Versorgungsquote, gemessen an den
Richtlinien, auf ca. ein Fünftel redu-
zieren. !
® Durch Lärm— und Abgasbelastungen
werden bestehende Spielflächen in-
folge ihrer Nähe zu hochbelasteten Stra-
Ren so stark beeinträchtigt, daß ein
nicht gesundheitsgefährdendes und ent-
wicklungsförderndes Spiel im Freien
nicht mehi‘ gewährleistet ist. Wie eng
der kindgerechte planerische Spielraum
durch eine stadtentwicklungsdominieren-
de Verkehrsplanung eingeengt wird, soll
ein Zitat aus einem Gutachten zeigen.
)
das die städtebauliche Neuordnung ei-
nes benachbarten Wohnquartiers entwer-
fen soll. Dieses Wohnquartier wird eben-
falls von der geplanten Stadtautobahn
tangiert:
„Die in anderen Bereichen vielfach
angewandte Lösung, Baulücken als Kin-
derspielplätze herzurichten, stellt für
den Untersuchungsbereich keine sinn-
volle Lösung dar, denn die Nutzungs-
struktur sowie die Erfordernisse der
Stadtbildpflege schließen das Beibehal-
ten von Baulücken über einen längeren
Zeitraum aus. Daher können öffentliche
Spielplätze nur unmittelbar neben der
Trasse der Westtangente auf _Restgrund-
stücken errichtet werden...”’2,
Eine ähnliche „kindgerechte”’ plane-
rische Behandlung erfahren vielfach
Öffentliche Grünflächen. Ihnen kommt,
insbesondere in den Althausquartieren,
Für die motorische und körperliche, die
emotionale, die soziale sowie die Intelli-
genzentwicklung, wegen ihrer Nutzungs-
und Erlebnisvielfalt eine besondere Be-
deutung zu. Exemplarisch sei hier auf
das schon weiter oben zitierte Gutach-
ten verwiesen: ‚,... die an die Autobahn
angrenzenden Bereiche (sollten) als
Grünanlagen ausgestaltet werden, die
über die Erholungsfunktion für die An-
wohner hinaus noch abschirmende Wir-
kung gegenüber den Emissionen der Au-
tobahn hätten ...”. (A + S, a.a.0.,S.
41). Flächen, die ökologisch extrem
hoch belastet sind, sollen gleichzeitig
Nutzungen übernehmen (Erholungs—
und Spielfläche), die sehr hohe An-
sprüche an die Umweltqualität stellen.
Unter ökologischen Gesichtspunkten
eine geradezu fatale Planung.
® Der Aktionsradius der Kinder, ihr
Aufenthalts— und Erlebnisraum,
wird zunehmend eingeengt. Ehemals
ruhige Wohnstraßen werden in Vor-
Fahrts—-Straßen umgewandelt, oder
sie müssen gebietsfremden Verkehr
aufnehmen, weil sie als „Schleichwe-
ge” mißbraucht werden. Insbesondere
für kleinere Kinder stellen stärker befah-
rene Straßen fast unüberwindbare Bar-
rieren dar, Breite Gehwege werden zu-
nehmend für die Anlage von Pkw—Ab-
stellflächen oder für Straßenverbreite-
rungen reduziert, Für Fußgänger und
spielende Kinder bleibt oft genug nur
eine klägliche Gehweaschneise.
DIE STRASSE ALS ERLEBNIS UND
ERFAHRUNGSRAUM
In früheren Zeiten prägte eine ganzheit-
liche Orientierung das Leben der Stra-
Re. Wohnen, Arbeiten, Erziehen, Spie-
len, Lernen und ‚Sich Austauschen’ wa-
ren Funktionen, die Straße als ergänzen-
den Aufenthaltsbereich, Erweiterungs-
fläche für Wohnung und Werkstatt cha-
rakterisierten. .
Im Zuge von Technisierung, Motori-
2Q