Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1979, Jg. 11, H. 43-47, [48])

Die Wand kann eine absolute Grenze zwi 
schen dem Außenraum und dem Innen- 
raum sein, wenn zwischen beiden nur mi 
nimale Beziehungen hergestellt werden: 
durch ein kleines, lediglich lichtgebendes 
Fenster und eine Tür. Letztere wird zum 
Beispiel im Gefängnis und im Hochhaus 
im wörtlichen Sinne „‚verlängert’ durch 
lange, komplizierte, mit vielen psycholo- 
gischen und faktischen Schwellen ange- 
füllte Zwischenbereiche. 
Die spezifische Gestaltung der Wand 
kann jedoch auch zwischen Innenraum 
und Außenraum vermitteln. 
Ob die Wand trennt oder ob sie Ver- 
bindungen schafft, ist eine Frage der so- 
zialen Absichten, die an die Gestaltung 
gestellt werden. Die jeweilige Gestaltung 
ist daher stets eine Sozialform bzw. Un- 
sozialform — in Absicht und Wirkungen. 
Es gibt mehrere Möglichkeiten, den 
Grenzbereich zwischen innen und außen 
auszuweiten: 
® mit einem breiten Vordach, 
® mit einer Bank vor der Tür, 
® mit Treppenstufen. 
Vorteile: 
2 Die Grenze wird unfest, sie wird im 
wahrsten Sinne des Wortes verräum- 
licht: sie wird zum Raum. 
Man kann in ihm leben 
und ist dann gleichzeitig nach innen 
und nach außen gewandt; 
eine solche Verhaltensweise hat/eine 
große Komplexität. 
Der Raum ist eine Art Vermittlungs- 
zone zwischen dem sicheren Innen- ® 
raum der Wohnung und dem weitaus 
weniger sicheren, komplexeren öffent: 
lichen Raum. Auf dem Weg von innen 
nach außen kann sich der Bewohner 
oder Besucher langsam umstellen. ® 
Das verstärkt (individualpsycholo- 
gisch) seine Sicherheit und verbessert 
(sozialpsychologisch) seine Kontakt- 
fähigkeit. 
DIE BAUT YPEN 
(1.1) 
In welcher spezifischen Weise zwischen 
innen und außen Verbindungen entste- 
hen, wird vor allem durch die Wahl des 
Bautyps bestimmt. 
Bauernhaus und historisches Stadthaus: 
Über Jahrtausende hinweg galt es als selbst- 
verständlich, daß die Bewohner unmittel- ® 
bar vor ihrer Wohnung zu ebener Erde den 
Freiraum hatten. Sie öffneten die Tür ® 
und waren auf der Straße bzw. im Hof 
oder im Garten. 
Das Gefängnis: Wo Menschen mit schwerer 
Strafe belegt wurden, entzog man ihnen 
die Selbstverständlichkeit des unmittelba- 
ren Zugriffs auf den Freiraum: man sperr- 
te sie in ein Gebäude, in dem sie durch 
die Anlage der Fenster daran gehindert 
wurden, das Straßenleben beobachten 
zu können; die Verbindung zwischen ih- 
rer Zelle und dem Außenraum erfolgte 
über Korridore, Treppen und Flure. Der 
Ausgang zum Freien wurde auf eine sehr 
kurze Zeit des Tages beschränkt. Man 
nannte diese Form des Entzugs von Le- 
bensqualität bzw. Wohnwerten „‚Gefäng- 
nis’ 
Das Hochhaus: Viele Menschen bezeich- 
nen auch das Hochhaus als ‚„‚Gefängnis”’. 
e Vom Fenster aus kann man die Leute 
auf der Erde nur sehr eingeschränkt 
wahrnehmen: sie sind klein, man sieht 
kaum Details, man kann sie durch Zu- 
ruf nicht erreichen. 
Die Tür des Hauses ist nur über Flure, 
Treppen oder einen Fahrstuhl erreich- 
bar — also nach einem langen Weg. 
Spontanes Wechseln zwischen Innen- 
raum und Außenraum ist nicht mehr 
möglich — es sei denn in der Kümmer- 
form des Balkons. 
Dadurch sinkt die Häufigkeit der Frei- 
raum-Benutzung tendenziell in ähnli- 
cher Weise wie beim Gefängnis, 
Einfamilien-Reihenhaus: Kein finanziell 
gutgestellter Mittelschichten-Angehöriger, 
der sich ein Einfamilienhaus baut, würde 
auf die direkte Verbindung von Innen- 
raum und Außenraum verzichten. 
Dieselben Privilegierten bestimmen je- 
doch — als Bauherren, Planer, Journali- 
sten —, daß für die Arbeiterbevölkerung 
nicht genügend Land vorhanden sei, um 
für sie ebenerdige Wohnungen zu bauen. 
Ihre Tricks: 
® Sie verschweigen ihr eigenes Privileg. 
® Sie übersehen — unabsichtlich oder ab- 
sichtlich — die vorhandenen Alternati- 
ven, die eine dichte Bebauung mit 
zweigeschossigen Reihenhäusern für 
jeweils eine Familie erlauben (vgl. Nie- 
derlande). 
Mächtige Bauträger sprachen sich ab, 
keine Alternativen zu produzieren. 
Dadurch erscheint das Reihenhaus fi- 
nanziell teurer, ist es aber in Wirklich- 
keit nicht. 
Sie beeinflußten auch die Wohnungs: 
bauförderung des Staates in ihrem 
Sinne, so daß es praktisch bislang 
kaum Förderung für Alternativen 
gab. 
Der fortschrittlichste Wohnungsbau für 
Arbeiter findet seit dem Ersten Weltkrieg 
in den Niederlanden statt: in Form von 
Arbeitersiedlungen mit Einfamilien-Rei- 
henhäusern. 
8 Die Wohnungen dieses Bautyps haben 
alle Vorteile des Wohnens zu ebener 
Erde, d.h. der unmittelbaren Bezie- 
hung zwischen Innenraum und Außen- 
raum. 
Gleichzeitig benötigen sie nur ein Mini- 
mum an Bodenfläche. 
Beim Reihenhaus liegen die Räume, 
die wenig bzw. nur nachts benutzt wer- 
den (Schlafräume) im Obergeschoß 
und wirken psychologisch als Rückzugs- 
räume. 
Die Räume, die den ünmittelbaren Zu- 
gang zur Straße benötigen, die Küche 
und der Wohnraum, liegen im Erdge- 
schoß. . 
Ungelöstes Problem: Die Lage der Kinder- 
zimmer, 
Problemlösungsalternativen: 
e Der Wohnraum wird von der gesamten 
Familie gleichrangig und gleichmäßig 
benutzt, d.h. auch von den Kindern. 
Die Kinderzimmer werden ins Erdge- 
schoß gelegt — neben die große Wohn- 
küche. Das Wohnzimmer liegt oben. 
Von den Kinderzimmern im Oberge- 
schoß führt eine Holz- oder Eisentreppe 
nach unten. 
Literatur zum verdichteten Flachbau: 
— J. GOEDERITZ, R. RAINER, H. HOFF- 
MANN, Die gegliederte und aufgelockerte 
Stadt. Tübingen 1957. 
D.M. FANNING, Families in Flats: Brit, 
med, Journal 4/1967. (Plädoyer für verdich- 
teten Flachbau aus medizinischen Gründen.) 
H.POTYKA, Verdichteter Flachbau. (Krämer) 
Stuttgart 1970. 
D. OLTER ‚, Wird die Sozialmedizin den 
Städtebau revolutionieren? : Städtehygiene 
22, 1971. (Plädoyer für verdichteten Flach- 
bau aus medizinischen Gründen.) 
X 
MATERIALIEN 
(1.2) 
Das erste, was ein neugeborenes Kind be- 
rührt, ist die Haut der Mutter. Unser Ur- 
teil über jegliches Material, das wir berüh 
ren oder sehen, bezieht sich in der Rege! 
auf unsere Erfahrung der Haut. „„Hautnä 
her” als Papier ist Wolle — daher bevor- 
zugen wir sie u.a. als Stoff unserer Klei- 
dung. Holz ist „‚hautnäher” als Backstein 
Putz „‚hautnäher”’ als Beton. Holz wirkt 
— auch wenn wir es nicht anfassen, son- 
dern lediglich sehen — wärmer als Beton. 
Dies ist auch die Erklärung dafür, daß 
die meisten Menschen dann, wenn sie es 
„gemütlich haben wollen, „„,hautnähere’ 
Materialien verwenden oder wünschen. 
Ausnahme: In warmen Ländern kann 
ein kaltes Material wohltuend sein. Oder‘ 
wenn es um Statusdarstellung.geht, wird 
oft kein „hautnahes’”’ Material verwandt 
— meist mit der Absicht, Distanz zu 
schaffen („kalte Pracht”). 
KLEINMASSSTÄBLICHKEIT (1.3) 
Mit Dingen, Architekturteilen, Wänden 
und Räumen, deren Größe einigerma- 
ßen auf die Größe der eigenen Person 
bezogen werden kann, können wir uns 
identifizieren; dies ist ein unterbewuß- 
ter Vorgang. Wo dies nicht geschieht , 
fühlen wir etwas Fremdes.uns gegenü- 
ber oder etwas Gewaltiges über uns; wir 
fühlen uns — unterbewußt — von einem 
„„Über-Ich’” beherrscht. 
Straßen- und Platzräume können oft 
auch nachträglich unterteilt und da- 
durch kleinmaßstäblich gemacht wer- 
den (Pflasterung, Holzwände, Mauern, 
Bepflanzung, Bäume, Pergolen u.a.). 
Hauswände kann man durch Bemalung 
„zerlegen’’. Oder durch angehängte 
Vordächer unterteilen. 
TÜR ZU EBENER ERDE 
(1.4) 
Liegt die Wohnungstür zu ebener Erde, 
dann können die Bewohner rasch zwi- 
schen “m Innen- und dem Außenraum 
wechseln. Folge: Der Außenraum wird 
häufiger benutzt. 
Er wird nicht nur in bestimmter Ab- 
sicht betreten, sondern oft auch „‚spon- 
tan’, um rasch ‚„,Luft zu schnappen” 
oder um „mal zu gucken, was draußen 
los ist”. 
Das bedeutet: Der Freiraum wird ohne 
persönliche Vorbereitungen betreten: 
ohne Umziehen — oft in Schürze und 
Hausschuhen. Ebenso: Der Freiraum er- 
fordert keine Verhaltensänderung, d.h. 
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