Die Wand kann eine absolute Grenze zwi
schen dem Außenraum und dem Innen-
raum sein, wenn zwischen beiden nur mi
nimale Beziehungen hergestellt werden:
durch ein kleines, lediglich lichtgebendes
Fenster und eine Tür. Letztere wird zum
Beispiel im Gefängnis und im Hochhaus
im wörtlichen Sinne „‚verlängert’ durch
lange, komplizierte, mit vielen psycholo-
gischen und faktischen Schwellen ange-
füllte Zwischenbereiche.
Die spezifische Gestaltung der Wand
kann jedoch auch zwischen Innenraum
und Außenraum vermitteln.
Ob die Wand trennt oder ob sie Ver-
bindungen schafft, ist eine Frage der so-
zialen Absichten, die an die Gestaltung
gestellt werden. Die jeweilige Gestaltung
ist daher stets eine Sozialform bzw. Un-
sozialform — in Absicht und Wirkungen.
Es gibt mehrere Möglichkeiten, den
Grenzbereich zwischen innen und außen
auszuweiten:
® mit einem breiten Vordach,
® mit einer Bank vor der Tür,
® mit Treppenstufen.
Vorteile:
2 Die Grenze wird unfest, sie wird im
wahrsten Sinne des Wortes verräum-
licht: sie wird zum Raum.
Man kann in ihm leben
und ist dann gleichzeitig nach innen
und nach außen gewandt;
eine solche Verhaltensweise hat/eine
große Komplexität.
Der Raum ist eine Art Vermittlungs-
zone zwischen dem sicheren Innen- ®
raum der Wohnung und dem weitaus
weniger sicheren, komplexeren öffent:
lichen Raum. Auf dem Weg von innen
nach außen kann sich der Bewohner
oder Besucher langsam umstellen. ®
Das verstärkt (individualpsycholo-
gisch) seine Sicherheit und verbessert
(sozialpsychologisch) seine Kontakt-
fähigkeit.
DIE BAUT YPEN
(1.1)
In welcher spezifischen Weise zwischen
innen und außen Verbindungen entste-
hen, wird vor allem durch die Wahl des
Bautyps bestimmt.
Bauernhaus und historisches Stadthaus:
Über Jahrtausende hinweg galt es als selbst-
verständlich, daß die Bewohner unmittel- ®
bar vor ihrer Wohnung zu ebener Erde den
Freiraum hatten. Sie öffneten die Tür ®
und waren auf der Straße bzw. im Hof
oder im Garten.
Das Gefängnis: Wo Menschen mit schwerer
Strafe belegt wurden, entzog man ihnen
die Selbstverständlichkeit des unmittelba-
ren Zugriffs auf den Freiraum: man sperr-
te sie in ein Gebäude, in dem sie durch
die Anlage der Fenster daran gehindert
wurden, das Straßenleben beobachten
zu können; die Verbindung zwischen ih-
rer Zelle und dem Außenraum erfolgte
über Korridore, Treppen und Flure. Der
Ausgang zum Freien wurde auf eine sehr
kurze Zeit des Tages beschränkt. Man
nannte diese Form des Entzugs von Le-
bensqualität bzw. Wohnwerten „‚Gefäng-
nis’
Das Hochhaus: Viele Menschen bezeich-
nen auch das Hochhaus als ‚„‚Gefängnis”’.
e Vom Fenster aus kann man die Leute
auf der Erde nur sehr eingeschränkt
wahrnehmen: sie sind klein, man sieht
kaum Details, man kann sie durch Zu-
ruf nicht erreichen.
Die Tür des Hauses ist nur über Flure,
Treppen oder einen Fahrstuhl erreich-
bar — also nach einem langen Weg.
Spontanes Wechseln zwischen Innen-
raum und Außenraum ist nicht mehr
möglich — es sei denn in der Kümmer-
form des Balkons.
Dadurch sinkt die Häufigkeit der Frei-
raum-Benutzung tendenziell in ähnli-
cher Weise wie beim Gefängnis,
Einfamilien-Reihenhaus: Kein finanziell
gutgestellter Mittelschichten-Angehöriger,
der sich ein Einfamilienhaus baut, würde
auf die direkte Verbindung von Innen-
raum und Außenraum verzichten.
Dieselben Privilegierten bestimmen je-
doch — als Bauherren, Planer, Journali-
sten —, daß für die Arbeiterbevölkerung
nicht genügend Land vorhanden sei, um
für sie ebenerdige Wohnungen zu bauen.
Ihre Tricks:
® Sie verschweigen ihr eigenes Privileg.
® Sie übersehen — unabsichtlich oder ab-
sichtlich — die vorhandenen Alternati-
ven, die eine dichte Bebauung mit
zweigeschossigen Reihenhäusern für
jeweils eine Familie erlauben (vgl. Nie-
derlande).
Mächtige Bauträger sprachen sich ab,
keine Alternativen zu produzieren.
Dadurch erscheint das Reihenhaus fi-
nanziell teurer, ist es aber in Wirklich-
keit nicht.
Sie beeinflußten auch die Wohnungs:
bauförderung des Staates in ihrem
Sinne, so daß es praktisch bislang
kaum Förderung für Alternativen
gab.
Der fortschrittlichste Wohnungsbau für
Arbeiter findet seit dem Ersten Weltkrieg
in den Niederlanden statt: in Form von
Arbeitersiedlungen mit Einfamilien-Rei-
henhäusern.
8 Die Wohnungen dieses Bautyps haben
alle Vorteile des Wohnens zu ebener
Erde, d.h. der unmittelbaren Bezie-
hung zwischen Innenraum und Außen-
raum.
Gleichzeitig benötigen sie nur ein Mini-
mum an Bodenfläche.
Beim Reihenhaus liegen die Räume,
die wenig bzw. nur nachts benutzt wer-
den (Schlafräume) im Obergeschoß
und wirken psychologisch als Rückzugs-
räume.
Die Räume, die den ünmittelbaren Zu-
gang zur Straße benötigen, die Küche
und der Wohnraum, liegen im Erdge-
schoß. .
Ungelöstes Problem: Die Lage der Kinder-
zimmer,
Problemlösungsalternativen:
e Der Wohnraum wird von der gesamten
Familie gleichrangig und gleichmäßig
benutzt, d.h. auch von den Kindern.
Die Kinderzimmer werden ins Erdge-
schoß gelegt — neben die große Wohn-
küche. Das Wohnzimmer liegt oben.
Von den Kinderzimmern im Oberge-
schoß führt eine Holz- oder Eisentreppe
nach unten.
Literatur zum verdichteten Flachbau:
— J. GOEDERITZ, R. RAINER, H. HOFF-
MANN, Die gegliederte und aufgelockerte
Stadt. Tübingen 1957.
D.M. FANNING, Families in Flats: Brit,
med, Journal 4/1967. (Plädoyer für verdich-
teten Flachbau aus medizinischen Gründen.)
H.POTYKA, Verdichteter Flachbau. (Krämer)
Stuttgart 1970.
D. OLTER ‚, Wird die Sozialmedizin den
Städtebau revolutionieren? : Städtehygiene
22, 1971. (Plädoyer für verdichteten Flach-
bau aus medizinischen Gründen.)
X
MATERIALIEN
(1.2)
Das erste, was ein neugeborenes Kind be-
rührt, ist die Haut der Mutter. Unser Ur-
teil über jegliches Material, das wir berüh
ren oder sehen, bezieht sich in der Rege!
auf unsere Erfahrung der Haut. „„Hautnä
her” als Papier ist Wolle — daher bevor-
zugen wir sie u.a. als Stoff unserer Klei-
dung. Holz ist „‚hautnäher” als Backstein
Putz „‚hautnäher”’ als Beton. Holz wirkt
— auch wenn wir es nicht anfassen, son-
dern lediglich sehen — wärmer als Beton.
Dies ist auch die Erklärung dafür, daß
die meisten Menschen dann, wenn sie es
„gemütlich haben wollen, „„,hautnähere’
Materialien verwenden oder wünschen.
Ausnahme: In warmen Ländern kann
ein kaltes Material wohltuend sein. Oder‘
wenn es um Statusdarstellung.geht, wird
oft kein „hautnahes’”’ Material verwandt
— meist mit der Absicht, Distanz zu
schaffen („kalte Pracht”).
KLEINMASSSTÄBLICHKEIT (1.3)
Mit Dingen, Architekturteilen, Wänden
und Räumen, deren Größe einigerma-
ßen auf die Größe der eigenen Person
bezogen werden kann, können wir uns
identifizieren; dies ist ein unterbewuß-
ter Vorgang. Wo dies nicht geschieht ,
fühlen wir etwas Fremdes.uns gegenü-
ber oder etwas Gewaltiges über uns; wir
fühlen uns — unterbewußt — von einem
„„Über-Ich’” beherrscht.
Straßen- und Platzräume können oft
auch nachträglich unterteilt und da-
durch kleinmaßstäblich gemacht wer-
den (Pflasterung, Holzwände, Mauern,
Bepflanzung, Bäume, Pergolen u.a.).
Hauswände kann man durch Bemalung
„zerlegen’’. Oder durch angehängte
Vordächer unterteilen.
TÜR ZU EBENER ERDE
(1.4)
Liegt die Wohnungstür zu ebener Erde,
dann können die Bewohner rasch zwi-
schen “m Innen- und dem Außenraum
wechseln. Folge: Der Außenraum wird
häufiger benutzt.
Er wird nicht nur in bestimmter Ab-
sicht betreten, sondern oft auch „‚spon-
tan’, um rasch ‚„,Luft zu schnappen”
oder um „mal zu gucken, was draußen
los ist”.
Das bedeutet: Der Freiraum wird ohne
persönliche Vorbereitungen betreten:
ohne Umziehen — oft in Schürze und
Hausschuhen. Ebenso: Der Freiraum er-
fordert keine Verhaltensänderung, d.h.
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