Schicksale -
Zum Beispiel: Frau Hofmann
Der Arbeiterschriftsteller Wilhelm
Erbing, 62, 28 Jahre als Bergarbei-
ter unter Tage, Mitglied der (nicht
mehr existierenden) Gruppe 671,
lebt in der Arbeitersiedlung Stem-
mersberg in Oberhausen. Er schreibt
für ARCH+ eine Serie mit dem Ti-
tel „‚Schicksale”, Jedes ist authen-
tisch. Die Redaktion knüpft an die
Veröffentlichungen die Hoffnung,
daß sie das Nachdenken darüber in
Gang setzen, was Planung an kon-
kreten Folgen für jeden einzelnen
Betroffenen auslöst.
In der Dunkelschiagsiedlung in
Sterkrade (Oberhausen) geht die
Angst um. Denn laut Beschluß der
„Ruhrkohle A.G.” ist geplant, zwei
Häuser, eines in der Zechenstraße
15, das andere in der Dammstraße
17, wegen Bergschäden abzureißen
Zunächst.
Aber die Bewohner der übrigen
Häuser in der Siedlung fragen sich
bereits jetzt voll dunkler Ahnung:
Wann sind wir an der Reihe?
Frau Hofmann, „Wally”, wie
die Nachbarn sie nennen, wohnt in
dem Haus Zechenstraße 15, auf der
linken Giebelseite. Sie und ihre Woh-
nung von den insgesamt acht „„be-
drohten’”” Wohnungen, sind am
schwersten betroffen. Man sieht es.
Bei beiden. Die äußeren Wände, wo
sich das Wohnzimmer befindet, wei-
sen breite, durchgehende Risse auf,
und darum hat man sie mit Balken
und Streben abgestützt, so daß das
Ganze nun aussieht wie eine Bau-
stelle.
Um diesen Eindruck noch zu
verstärken, sind an der Verstrebung
elektrische Warnlampen angebracht
worden, die Frau Hofmann bei Ein-
bruch der Dunkelheit selbst entzün-
den muß; der Strom läuft über ei-
nen Zwischenzähler. Eine ’Dauer-
baustelle? ”’ Oder soll sie den Ab-
bruch des Hauses einleiten?
Wer aber stützt die ’seelischen
Schäden’ der Frau Hofmann ab?
Gibt es auch dafür Balken und Stre-
ben? Wer kümmert sich um sie
und sagt: Dieser Frau muß gehol-
fen werden!
Wenn sie in der Küche auf dem
Sofa sitzt und über sich und ihre La-
ge nachdenkt, dann kann es gesche-
hen, daß ihr die Tränen kommen.
Dann kommt Frau Kreutzer, eine
Nachbarin, die mit ihr spricht und
sie tröstet.
Dennoch ist sie allein. Denn seit
Dezember 78 ist sie geschieden von
ihrem Mann, der, als sie sich nichts
mehr zu sagen hatten, zu einer an-
deren Frau gegangen war. Auch
wenn Frau Hofmann. heute an der
Schwelle des Alters, verzweifelt re-
sümiert, daß, wenn zwei Menschen
sich nichts mehr zu sagen haben,
sie doch wenigstens miteinander
„reden” sollten, bleiben dennoch
die anderen Sorgen, mit denen sie
zu kämpfen hat: Sie bekommt kei:
ne Kohlen, ihr geschiedener Mann
beansprucht das Deputat für sich;
nur einmal hat er 160 DM „Koh-
lengeld” geschickt.
Dann hat sie 800 DM ausgege-
ben für eine Renovierung in eigener
Regie, für Tapeten, Reinigung von
ramponierten Böden u.ä., verur-
sacht durch die provisorischen Bau-
arbeiten inner- und außerhalb des
Wohnzimmers. Nur der Kleider-
schrank steht noch drin.
330 DM „Tapetengeld” sind ihr
zurückerstattet worden, die restli-
chen 470 DM gehen zu ihren La-
sten. Außerdem muß sie noch etwa
1700 DM Anwalts- und Gerichtsko-
sten wegen der Scheidung bezahlen
Die Miete ist reduziert worden auf
78 DM, weil das Wohnzimmer zur
Zeit nicht bewohnbar ist, — von den
anderen Ausgaben spricht sie schon
nicht mehr; damit muß und wird
sie fertig werden.
Schlimmer aber ist die Einsam:
keit. Frau Hofmann: „Manchmal
esse ich die ganze Woche nichts als
Eintopf. Und wenn ich am Morgen
aufwache, frage ich mich: Was wird
heute wieder passieren? Was soll
ich denn machen! Ich bin doch al-
lein!”
Allein war sie auch im vergange-
nen Sommer, als ein Blitzeinschlag
ihren Fernseher zerstörte. Wiederum
waren es Nachbarn, die ihr beistan-
den. Aber auch die Feuerwehr kam.
Die Folgen: Ein Schock und Angst-
zustände. Frau Hofmann: ‚Der Ner-
venarzt, bei dem ich in Behandlung
bin, meint, daß ich damit allein fer-
tig werden muß; er hat Tabletten
verschrieben.” Tabletten gegen Ein
samkeit?
Nachts wird sie oft wach, weil
sie glaubt, Klopfen gehört zu ha-
ben. — Schließlich gibt ’man’ ihr
den Rat, aus der Wohnung auszu-
ziehen. 16 Jahre hat Frau Hofmann
in dieser Wohnung gelebt, und si-
cher waren auch glückliche Jahre da
darunter.
Der Gutachter und Architektur-
Professor Ernst Althoff aus Krefeld
aber stellt in einem vorläufigen Gut-
achten fest (weitere sollen folgen),
daß es durchaus sinnvoll wäre, die
gefährdeten Häuser zu reparieren,
auch von der Kostenseite her. Wer
aber erstellt ein Gutachten über die
Einsamkeit der Frau Hofmann?
Wilhelm Erbing