Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1979, Jg. 11, H. 43-47, [48])

feldplanungen etc. müssen auf ihre sozia- 
len und soziokulturellen Konsequenzen 
hinterfragt werden. Nur so können die 
durch die Stadtplanung und den Stadtum- 
bau selbst bedingten sozialen Erosionspro- 
zesse eingedämmt werden. In der Stadt- 
teil- und Quartiersentwicklungsplanung 
müssen Modelle sozialer Zwangsmischung 
zugunsten der Erhaltung homogener — auch 
„einseitiger”” — Sozialstrukturen aufgegeber 
werden. Dabei ist Ghetto-Bildung zu ver- 
meiden, indem die Kommune verstärkt 
von ihrem bau- und wohnungsaufsichts- 
rechtlichen Instrumentarium Gebrauch 
macht, gezielt im Bereich der sozialen 
Infrastruktur investiert und so einer 
Verslumung entgegenwirkt. 
3. Unterstützung stadtteilbezogener 
Kulturinitiativen, Dezentralisierung 
kommunaler Kulturinvestitionen 
Anstelle der zentralen Kulturaktivitäten 
in den meist menschenleeren Citys sollte 
sich der Schwerpunkt städtischer Kul- 
turaktivitäten in die Stadtteile verlagern. 
Wie teilweise im nördlichen Ruhrgebiet 
der Fall (Westfälisches Landestheater 
Castrop-Rauxel) sollten die Theater 
zum Zuschauer bzw. Teilnehmer kom- 
men. 
Darüber hinaus müssen die Städte 
wesentlich mehr als bisher die kulturel- 
te Eigeninitiative der Bevölkerung (z.B. 
Initiativen für Volkshäuser, Theater- und 
Musikgruppen etc.) vorurteils- und bevor- 
mMmundunasfrei unterstützen. 
2. Dezentralisierung des Angebots an 
sozialer Infrastruktur 
Maßnahmeschwerpunkte sind hier insbe- 
sondere die Bereiche Bildung und Kultur 
sowie Medizin. 
Die ärztliche Versorgung in den Aus- 
länderschwerpunkten ist i.a. wesentlich 
schlechter als in den besseren Gebieten 
der deutschen Wohnbevölkerung. Ähn- 
liches gilt für die deutschen Arbeiter- 
Quartiere, vor allem die peripheren Wohn- 
siedlungen der 60er Jahre. Hier muß die 
Gemeinde gezielt auf die Niederlassung 
praktischer Ärzte — auch ausländischer — 
hinwirken. 
Im Bereich der Bildungspolitik muß 
die Tendenz der letzten Jahre zur Zentra- 
lisierung von Bildungseinrichtungen kri- 
tisch überprüft werden. Aufgrund der 
bekannten Wechselwirkung zwischen An- 
gebot und Wahrnehmung des Bildungsan- 
gebotes müssen verstärkt die sozial be- 
nachteiligten Stadtteile, vor allem auch 
die Ausländerquartiere, berücksichtigt 
werden. 
Die Forderung nach Dezentralisierung 
des Bildungsangebotes gilt auch im be- 
sonderen Maße für die Erwachsenenbil- 
dung durch die VHS und hier insbesonde- 
re für Sprachkurse für Ausländer. 
Ein weiterer Schwerpunkt der dezen- 
tralen VHS-Arbeit sollte die Behandlung 
von Konflikten im Stadtteil (Verkehrs- 
Planungen, Sanierungen etc.) bzw. im 
Wohnbereich (Modernisierunasprobleme. 
Mietentwicklung etc.) sein. Zusammen 
mit den örtlichen Gewerkschaften (z.B. 
im Rahmen von „Arbeit und Leben”) 
sollten Probleme der Beziehung zwischen 
Wohnen und Arbeiten bzw. des Mobili- 
tätszwanges stadtteil- bzw. quartiersbe- 
zogen aufgearbeitet werden. 
Ss. 
A 
4. Aufbau eines stadtteilbezogenen Sy- 
stems von „Häusern der offenen Tür” 
Materielle Voraussetzung für die Dezen- 
tralisierung kommunaler Kulturaktivitä- 
ten ist der Aufbau eines Netzes stadtteil- 
bezogener Kultur- und Kommunikatians- 
zentren. Diese Zentren müssen ‚„‚Häuser 
der offenen Tür’ sein und von den Be- 
nutzern selbst verwaltet werden. ‚‚Häuser 
der offenen Tür” wären die Kristallisations- 
punkte stadtteilbezogener sozialer und 
kultureller Aktivitäten der deutschen und 
ausländischen Bevölkerung: von VHS- 
Kursen über Theater- und Musikveranstal- 
tungen bis zu den Treffs von Mieter-, Ar- 
beitslosenselbsthilfeinitiativen etc. 
5, Anerkennung der soziokulturellen 
Nutzungsansprüche nicht-mittelstän- 
discher, insbesondere ausländischer 
Wohnbevölkerung an das Wohnumfeld 
Wie oben aufgezeigt, sind die Belastungen 
und Risiken des industriellen Produktions- 
prozesses klassen- und schichtenspezifisch 
verteilt. Eine arbeitaehmerorientierte 
Wohnumfeldplanung muß hieraus den 
Schluß ziehen, den Regenerationsansprü- 
chen dieser Teile der Bevölkerung beson- 
dere Priorität einzuräumen, um die fakti- 
sche Benachteiligung nicht noch weiter 
zu verschärfen. Für die planerische Praxis 
heißt das nicht nur eine Neufestsetzung 
von Nutzungsprioritäten sondern ein 
grundsätzliches Umdenken und eine Kri- 
tik an mittelständischen Ordnungs- und 
Ästhetikbegriffen. 
Diese Forderung bezieht sich sowohl 
auf Wohnumfeldverbesserung wie auf 
die Wohnungsmodernisierung und das 
Verhältnis beider zueinander. So wenig 
es den Bedürfnissen der Bewohner einer 
Arbeitersiedlung entspricht, wenn das 
für mittelständische Bedürfnisse „zu klei- 
ne” Wohnzimmer auf Kosten der ‚,zu gro: 
ßen’” Wohnküche vergrößert wird — wie 
häufig bei Modernisierungen der Fall —, 
sowenig sinnvoll ist es, ausländischen 
Arbeitern als Ersatz für ihr zerstörtes Gra- 
beland einen Platz in einem Dauerklein- 
garten anzubieten. Stadtteilpolitik und 
-planung müssen hier eine neue Sensibili- 
tät finden, vor allem aber müssen klare 
politische Entscheidungen zugunsten 
der „„‚Nischennutzungen” fallen. Die Vor- 
aussetzungen hierfür sind jedoch in den 
Stadtparlamenten — wie oben aufgezeigt - 
denkbar gering; so wird die Verteidigung 
dieser Form von Wohnqualität auch in 
Zukunft wesentlich die Sache von Bürger- 
initiativen bleiben. 
Der Beitrag von U. Hellweg ist ein Aus- 
zug aus einem längeren Aufsatz (‚Ansatz 
punkte für eine arbeitnehmer- und sozlal- 
orientierte Wohnum feldplanung im in- 
dustriellen Verdichtungsraum”), der dem- 
nächst in einem von Franz Pesch und 
Klaus Selle herausgegebenen Reader erschei- 
nen wird. Näheres im nächsten Heft. 
1) Vgl. RWI: Motive und Strukturen der Wande- 
rungen im Ruhrgebiet, Düsseldorf 1978, S. 24 
2) Unter Beteiligung zahlreicher Bewohner wurde 
das seit Jahren verfallende und schon fast zu- 
gewachsene Gebäude freigelegt, gesäubert und 
provisorisch instand gesetzt. Anläßlich des 
UNESCO-Kongresses ‚„‚,Kultur und-Alltag’” im 
Juni 1978 in Gelsenkirchen wurde ein Festa- 
bend mit Musik und kaltem Buffet für die Be: 
wohner und Kongreßteilnehmer veranstaltet, 
der großen Anklang fand. In einem offenen 
Brief an den Oberbürgermeister der Stadt er- 
klären die Kongreßteilnehmer, daß es sich bei 
dem Volkshaus um eine richtungsweisende 
und beispielhafte Einrichtung handelt und 
bitten den OB um eine bevormundungsfreie 
Unterstützung solcher Initiativen. Mit einem 
Aufwand von 60.000 DM könnte das alte 
Waschhaus in ein Kulturzentrum und eine 
Begegnungsstätte verwandelt werden, Bis 
heute ist noch keine Entscheidung über eine 
finanzielle Unterstützung seitens der Stadt ge- 
fallen. 
Vgl. „‚Entschließung zur Kultur- und Freizeit- 
arbeit’’, Antrag des Jugendausschusses der 
IG Metall, beschlossen von der 10. ordentli- 
chen DGB-Bundesjugendkonferenz in Frank 
furt/Main im Dezember 1977, in: Werkstatt, 
Sonderheft: Gewerkschaft und Kulturarbeit 
Nr. 13—15, 1978, S. 23. 
„Zwar sind die Kulturetats in den letzten Jah- 
ren absolut gestiegen, jedoch ist ihr Anteil 
am Gesamthaushalt der Gemeinden zurückge- 
gangen und liegt 1978 in den Städten, die 
den Großteil aller Mittel für die Kulturarbeit 
im Revier aufbringen, nämlich in Duisburg, 
Essen, Bochum, Gelsenkirchen, Dortmund 
und Hagen (2.800.000 Einwohner), zusammen 
bei 4%. Dabei entfallen allein 55% auf die von 
ihnen finanzierten Theater und Orchester, 
17% auf die Büchereien und 7% auf die Wei- 
terbildung.” ( EICHLER, K.: Kultur an der 
Ruhr — Kulturelle Infrastruktur und Kommu- 
nale Kulturpolitik im Revier, in: tendenzen 
Nr. 121, Sept./Okt. 1978, 5, 8. 
„So will Duisburg, die am höchsten verschul- 
dete Stadt in der Bundesrepublik, im Rahmen 
eines $taatlich verordneten Sparprogramms 
bis 1985 vier Zweigstellen der Stadtbibliothek 
schließen.” (ebd.) 
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